12 Bildsprachen
Einleitung
Der hier präsentierte Ansatz zur Bildbetrachtung ist ungewöhnlich: Die unterschiedlichen Gestaltungsprozesse des Zeichnens und Malens und deren Resultate werden auf das System der zwölf astrologischen Archetypen bezogen. Dabei muss man nicht „an Astrologie glauben“ (und schon gar nicht an die Horoskope in populären Zeitschriften!). Hingegen bietet dieser besondere Blickwinkel eine anschauliche Orientierungshilfe. Die gängigen kunstgeschichtlichen Stilbezeichnungen und Ismen sind zweifellos hilfreich, um sich in der Vielfalt künstlerischer Produktion zurechtzufinden. Doch mit der Benennung der zugrundeliegenden Gestaltungskräfte eröffnet sich ein viel umfassenderes Bild, indem mit „exakter Phantasie“ (Ernst von Xylander) Verbindungen zu sämtlichen Lebensbereichen hergestellt werden können.
Dieser Versuch einer systematischen Darstellung von Bildgestaltung ist im Zusammenhang mit dem gleichnamigen Weiterbildungskurs an der Schule für Gestaltung in Bern entstanden. In diesem „bildnerischen Fremdsprachenunterricht“ ging es darum, ein konstantes Motiv (die menschliche Figur) in 12 unterschiedlichen „Stilen“ darzustellen. Diese Bilder mussten am Schluss des Kurses von Aussenstehenden den vorgegebenen 12 Qualitätskriterien richtig zugeordnet werden können. Der Zusammenhang mit diesem praktischen Unterricht erklärt auch die sehr konkreten Hinweise auf –beispielsweise– zu verwendendes Material, was in der Praxis von Berufskünstler*innen natürlich anders aussehen kann in Anbetracht der weiteren, z. T. widersprüchlichen Impulse, die solche Entscheide mitbeeinflussen können.
Die nachfolgenden Kapitel sind Beschreibungen von 12 idealtypischen Gestaltungsprozessen.
Diese 12 Kapitel sind ihrerseits in 12 Abschnitte unterteilt, welche die einzelnen Phasen dieser
Prozesse beschreiben. Die ersten vier Abschnitte beziehen sich auf die Vorbereitung der Arbeit (die Kapitel Motivation, Material, Anregungen und Einstimmung), danach geht es um die konkrete Ausführung (Durchführung, Überprüfung, Formverbindungen und Spannung), und in den letzten vier Abschnitten wird das fertige Bild reflektiert (Vision, Vorbilder, Kontext und Essenz). Diese Strukturierung der Texte erlaubt zwei verschiedene Lesarten: Entweder kann ein einzelner Bildgestaltungsprozess chronologisch durch die 12 Phasen hindurch im gleichen Kapitel verfolgt werden, oder aber man sucht Antworten auf eine einzelne Frage in verschiedenen oder gleich allen Kapiteln.
Am Anfang von jedem Kapitel werden die Eigenschaften der Bilder des betreffenden Gestaltertyps genannt. Dabei erweisen sich die Grenzen zu den 11 anderen Typen umso schärfer, je besser die Gesamtheit der genannten Eigenschaften ins Auge gefasst wird. Denn einzelne dieser Qualitätskriterien, isoliert betrachtet, lassen sich manchmal zwei oder gar mehreren Archetypen zuordnen.
In Wirklichkeit kommen natürlich sämtliche Kombinationen der zwölf Typen vor. Kreativität ist nicht zuletzt die Fähigkeit der Gestalter*innen, diese zum Teil widersprüchlichen Impulse zu einer persönlichen Bildsprache zu formen.
In der nachfolgenden Darstellung der 12 Gestaltertypen tauchen nicht nur die Namen der 12 Tierkreiszeichen auf, sondern auch jene der Planeten, welche traditionell diesen Zeichen zugeordnet werden. Durch die jeweiligen Assoziationen kann es bisweilen leichter fallen, die entsprechenden Eigenschaften zu erfassen und zu erinnern.
Zum Thema der 4 Elemente, von dem gelegentlich die Rede sein wird, nur so viel: Sie bilden im astrologischen System den gemeinsamen Nenner von je 3 Tierkreiszeichen, wobei Feuer (Widder, Löwe und Schütze) dynamische Ausstrahlung symbolisiert, Erde (Stier, Jungfrau und Steinbock) den Bezug zur materiellen Realität, Luft (Zwillinge, Waage und Wassermann) zur mentalen Sphäre und Wasser (Krebs, Skorpion und Fische) zum Bereich des Gefühlsmässigen.
Mit „bildnerischem Gestalten“ sind in dieser Darstellung einzig zeichnerische und malerische Tätigkeiten gemeint. Die –bisweilen auch leicht karikierend– geschilderten Prozesse gelten ebenso für professionelle Kunstschaffende wie für Freizeitkünstler*innen (für diese vielleicht sogar noch mehr!). Wie gesagt: Menschen sind nie reine Typen im Sinne der 12 beschriebenen Kategorien, sondern immer komplexe und häufig auch sehr widersprüchliche “Mischungen”. Besonders deutlich wird dies im Folgenden beim Thema der Vorbilder, auf welche die jeweiligen Gestaltertypen sich beziehen könnten (10. Abschnitt). Die Gruppierungen der jeweiligen Künstler*innen mögen auf den ersten Blick recht heterogen erscheinen. Wo aber die astrologischen und die bildgestalterischen Merkmale der Genannten ausgeprägt genug erscheinen, da sollten eine innere Verwandtschaft, ein ähnliches ”Klima”, ein zu Grunde liegender kleinster gemeinsamer Nenner spürbar und benennbar werden.
Entscheidend zum Verständnis der Zuordnungen zu den 12 Grundkategorien ist es, dass nicht die Bildinhalte, sondern ausschliesslich die formalen Eigenschaften der jeweiligen Bilder beurteilt werden, ihre Machart, der besondere Charakter der Werkspuren. Wie schnell oder wie langsam sind sie entstanden, in welcher Körperhaltung, durch welche spezifischen Bewegungen, aus welcher intrinsischen Motivation? Letztlich geht es um eine Beschreibung bildgestalterischer Prozesse unter dem Aspekt der „Psychomotorik“ in einem erweiterten Sinn.
Ein Netzwerk ästhetischer Beziehungen herstellen, anstatt sich der Spaltung der Fachbereiche zu unterwerfen, verlangt nach einer Methode, die das Verschiedenartige nicht einfach aufeinanderprallen lässt, sondern Pole schafft, die es erlauben, dass sich die Vielfalt zwischen diesen Polenmit Sinn füllt.
Peter Jenny (“Quer/Aug/Ein”)
Die Widder/Mars-Gestaltung
Qualitätskriterien
spontan, energisch, direkt, unmittelbar, roh, impulsiv, pionierhaft, zupackend, angriffig, aggressiv, kämpferisch, schlagkräftig
1. Motivation
Bei der Widder/Mars-Gestaltung ist es eine ganz spontane Erregung, welche den Prozess in Gang bringt. Es ist ein völlig subjektiver Impuls, der unbedingt umgesetzt werden will. Es ist etwas Ur-Anfängliches, das antreibt. Es ist die Frische des ersten Aktes, die immer wieder reizt.
2. Material
Das Arbeitsmaterial sollte eine unmittelbare Umsetzung ermöglichen, der Gestaltungsvorgang nicht durch irgendwelche technischen Schwierigkeiten gebremst werden. Deshalb eignen sich zum Zeichnen beispielsweise breite Grafitstifte oder Ölkreiden, zum Malen möglichst schnell trocknende Farben und robuste Pinsel. Alles sollte in ausreichender Menge bereit liegen.
3. Anregungen
Bei der Widder/Mars-Gestaltung sind nicht theoretische Kenntnisse oder handwerkliche Finessen gefragt, sondern die ungehinderte Befreiung des Gestaltungsdrangs. Förderlich sind weder kunsthistorisches Wissen noch langwieriges Planen oder sorgfältiges Ausführen, sondern einzig und allein das Hier und Jetzt der konkreten Aktion. Es geht um die klare Entscheidung, die eigenen Impulse auch wirklich in direkte Handlung umzusetzen.
4. Einstimmung
Der Widder/Mars-Typ hat den Mut, immer wieder “Anfänger” zu werden und aus den ureigenen Antrieben und der momentanen Situation heraus frisch und kraftvoll ans Werk zu gehen. Der Arbeitsraum –ob drinnen oder draussen– darf die körperliche Bewegungsfreiheit nicht einschränken. Denn es braucht in jedem Fall die physische Bewegung, um den freien Fluss der psychischen Energien zu ermöglichen. Ein Jucken in den Muskeln als Startsignal! Jedenfalls geht es um die Entschlossenheit, alle Einwände beiseite zu räumen, alle Kräfte zu mobilisieren und bedenkenlos anzufangen.
5. Durchführung
Die Spannung entlädt sich als erste energische Werkspur auf der Bildfläche: Der Bann ist gebrochen, alles weitere entwickelt sich aus dieser ersten Tat. Mit kurzen, heftigen Linien oder Pinselstrichen wird Stück um Stück der unberührten Fläche erobert. Das forsche Tempo hilft, die Wahrnehmung zu fokussieren. Es wird rasch und klar entschieden, Unwichtiges beiseite gelassen.
Es geht nicht darum zu zeigen, wie die Dinge genau aussehen, sondern was sie tun, was sie bewegt und wie sie sich bewegen. Einzelne Linien und Flächen des Bildes steigen auf, andere werden hinuntergedrückt, oder sie dehnen sich aus oder ziehen sich zusammen. Unterschiedliche Formen ergeben sich aus Unterschieden in Geschwindigkeit, Richtung und Druck der Hand. Es ist eindeutig der Bewegungssinn und nicht der Sehsinn, der diese gestischen Bilder prägt. Dabei wird mit Vorteil stehend gearbeitet, mit dem Einsatz des ganzen Körpers. Zeichnungen und Malereien sind Protokolle des Gestikulierens!
Ebenso direkt erfolgt die Farbwahl. Kein unnötig langes Mischen: Reine Farben wirken ohnehin viel frischer. Allenfalls kann auch direkt aus der Tube heraus gemalt werden.
Durch die Entschlossenheit und Schnelligkeit der Arbeit bleibt der zündende Funke im ganzen Bild gegenwärtig, und dieses Gefühl eines leisen Kribbelns zu Beginn einer Unternehmung, von der noch niemand weiss, wohin sie führen wird.
6. Überprüfung
Der Widder/Mars-Typ verlässt sich auf seine Intuition. Auf Korrekturen wird verzichtet.
Gute Bilder entstehen hier nicht aus irgend einem Kalkül, sondern einzig und allein aus der Authentizität und der Rasanz der Ausführung. Doch das hohe Tempo des Arbeitens darf nicht dazu führen, ins Formelhafte und Routinierte abzugleiten. Vielmehr gilt es, immer wieder mit grösster Wachheit und Schärfe das Angepeilte zu erfassen und es in knappster Form auszudrücken. Gelingt dies nicht auf Anhieb, so wird das Bild weggeschmissen und neu begonnen.
7. Formverbindungen
Harmonisches Zusammenspiel der einzelnen Formen ist hier kein Thema. Es ist nicht eine bewusste Strategie oder vorbedachte Komposition, welche die einzelnen Teile miteinander verbindet, sondern die ungebremste Dynamik sämtlicher Werkspuren. Daraus ergibt sich wie von selbst die Stimmigkeit und Einheit des Bildes. Nachträgliche Versöhnungsversuche zwischen konträren Bildelementen werden vermieden!
8. Spannung
Die einzelnen, spontan hingesetzten Formen brauchen weder in sich geschlossen noch in irgend einer Weise ausgearbeitet zu sein. Es geht nicht um “Richtigkeit” oder gar Perfektion, sondern einzig und allein um den kraftvollen Wurf, um die energische, affirmative Umsetzung des ersten Impulses. Ist dies erfolgt, wird unverzüglich die nächste Arbeit in Angriff genommen. Die Frische und Spontaneität ginge verloren, wenn das Bild zu lange bearbeitet würde. “Unfertigkeit“ wird in Kauf genommen.
9. Vision
Die Widder/Mars-Gestaltung verkörpert die unbeirrbare Kraft der kreativen Tat. Sie soll eine Ermutigung zu direkter Handlung sein, welche weitere Prozesse –auch kollektive– in Gang zu setzen vermag. Nur so kann das Neue in die Welt treten. Bilder müssen Wegbereiter sein!
10. Vorbilder
Vincent van Gogh (30.3.1853-1890) gilt als Vorläufer des Expressionismus. Charakteristisch für seine Zeichnungen und Malereien sind ihre ausgeprägte Handschrift und die heftigen, ausdrucksstarken Werkspuren als Äusserungen einer starken inneren Bewegtheit.
Ernst Ludwig Kirchner (6.5.1880-1938; 5 Planeten in Widder) hat Tausende von Zeichnungen geschaffen, in erregten, rasanten Strichen, häufig mit Kreide oder Rohrfeder. Seine expressionistische Malerei ist ein direkter Angriff auf die impressionistische Koloristik und die damit verbundene illusionistische Raumdarstellung. Kirchner verwendete häufig ungebrochene Farben und einen flächigen Bildaufbau. Auffällig ist im weiteren seine Vorliebe für aggressive, spitze Winkel.
Für den Maler Hans Hofmann (21.3.1880-1966), ein Hauptvertreter des abstrakten Expressionismus in Amerika, war das stetige Zeichnen ein Mittel des künstlerischen Fortschreitens, aber auch ganz einfach eine Methode, um sich für die weitere Arbeit aufzuwärmen, gleich wie ein Sportler vor einem Wettkampf!
Die Bilder von Karel Appel (15.4.1921-2006) zeigen eine ungestüme, elementare Ausdrucksweise, verwandt mit Kinderzeichnungen. Er hat vieles von dem vorweggenommen, was in den 70er und 80er Jahren die Trans-Avantgarde und die “Neuen Wilden” propagierten.
Der Amerikaner Cy Twombly (15.5.1929-2011; 4 Planeten in Widder) zeichnete und malte Bilder, welche von der Motorik des Schreibens geprägt sind. Twomblys vitale Linien sind Spuren ganz unterschiedlicher Bewegungsimpulse.
11. Kontext
Es fällt auf, dass bei der Mehrzahl der Vertreter des Expressionismus das Element Feuer dominiert. Neben den bereits Genannten sind dies auch Heckel, Nolde und Soutine (Sonne in Löwe) sowie Munch und der frühe Kandinsky (Sonne in Schütze). Doch es sei hier noch einmal auf die in der Einführung beschriebene Funktion dieser Zuordnungen hingewiesen: Sie erfassen niemals die Gesamtpersönlichkeit und das Gesamtwerk der betreffenden Kunstschaffenden, doch sie erlauben, Zusammenhänge auf andere Art darzustellen.
Der Widder/Mars-Typ als erster Vertreter des Elements Feuer ist seinem Wesen nach ein Pionier. Entsprechend ist die spontan entworfene Skizze die adäquate künstlerische Ausdrucksform. Nicht die Skizze als Vorbereitung für eine spätere Ausführung –dazu fehlen häufig Geduld und Methodik–, sondern das Skizzenhafte als Wesensmerkmal. Das italienische “schizzare” (spritzen, bespritzen) deutet auf das schnelle Arbeitstempo hin, das charakteristisch ist für den “schizzo” oder die “Skizze”, bei der leicht die Tinte von der Feder spritzt.
12. Essenz
Zeichnen und Malen werden in Widder/Mars-Bildern gleichsam als Kampfsportart erlebt! Durch die Risikobereitschaft in der Ausführung bleiben etwaige Unstimmigkeiten offen und unbeschönigt sichtbar. Die Konfrontation mit diesen kompromisslosen und rohen Bildern bewirkt eine starke emotionale Erregung. In der Vorstellung der Betrachter*innen werden eigene Bilder entfacht, und es wird zu eigenem Tun ermutigt.
Die Kunst ist keine Unterwerfung, sie ist Eroberung.
André Breton
Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alle Küsten aus den Augen zu verlieren.
André Gide
Im Anfang war die Tat.
J.W. Goethe
Des Anfängers Geist hat viele Möglichkeiten, der des Experten hat nur wenige.
Shunryu Suzuki
Die Stier/Venus-Gestaltung
Qualitätskriterien
sinnlich, sinnenfroh, lustbetont, erotisch, geniesserisch, materialbewusst, wertbewusst, naturhaft, natürlich, erdhaft, körperhaft, taktil, haptisch
1. Motivation
Der Stier/Venus-Typ geht vom sinnlich Erfassbaren aus: der natürlichen Schönheit einer Landschaft, einer Pflanze, eines Menschen. Er gibt sich der Lust hin, vorhandene Materie nach seinem eigenen Wertempfinden in eine greifbare Form zu bringen.
2. Material
Hier stehen neben den konventionellen Techniken der Tempera- oder Ölmalerei auch sämtliche Mischtechniken zur Verfügung. Besonderes Augenmerk wird auf die Beschaffenheit des Bildträgers verwendet, auf die Eigenschaften der Pigmente und der Malmittel sowie der Werkzeuge, die zum Einsatz kommen sollen. Auch die Dauerhaftigkeit der verwendeten Werkstoffe ist ein gewichtiges Kriterium.
Jedes Material hat seine ganz besonderen Reize, und diese werden bewusst ins Spiel gebracht.
3. Anregungen
Das handwerkliche Wissen erwerben sich Stier/Venus-Typen am besten durch möglichst anschaulichen Unterricht. Ansonsten vermitteln Fachbücher die nötigen Grundkenntnisse über die verschiedenartigen Werkstoffe. Pigmente, Bindemittel und Grund müssen richtig aufeinander abgestimmt werden. Auf dem Zeichen- oder Malgrund, dem eigentlichen “Fundament”, baut sich alles weitere auf. Als Bindemittel, welche die Farbpigmente ”zusammenkleben”, können entweder wässerige oder nichtwässerige Malmittel verwendet werden. In jedem Fall bilden eigene praktische Versuche die beste Voraussetzung für die weitere Arbeit.
4. Einstimmung
Bevor der Stier/Venus-Typ mit Zeichnen und Malen beginnt, lässt er sich Zeit, sein Motiv eingehend zu betrachten und es dadurch in seiner konkreten Erscheinungsform zu begreifen – wobei das “Begreifen” gegebenenfalls auch ganz wörtlich verstanden wird. Auf diese Weise öffnet er sich für den Formenreichtum der Natur und der vom Menschen gestalteten Welt. Auch das Durchstöbern seiner Sammlungen von Reproduktionen, Skizzen und Bildern kann der Einstimmung auf die neue Arbeit dienen.
Danach erfolgt das Bereitstellen des Arbeitsmaterials, möglicherweise auch das Anreiben der Farben – eine Tätigkeit, bei der alle Sinne angeregt werden.
5. Durchführung
Nun geht es um die Wahl des richtigen Bildformats, welches in Einklang gebracht wird mit dem gewählten Ausschnitt (bei konkret vor uns liegenden Motiven) oder dem Rahmen, den man einer imaginierten Komposition geben will. In beiden Fällen wird häufig den ruhiger wirkenden Breitformaten der Vorzug gegeben.
Während die Widder/Mars-Typen die Primamalerei bevorzugen (d.h. die Durchführung in einer einzigen Sitzung, ohne weitere Übermalungen), ist hier die Schichtenmalerei charakteristisch. Nachdem die Untermalung genügend durchgetrocknet ist, erfolgen die nächsten Schichten lasierend (durchscheinend) oder pastos (dick aufgetragen). Durch Streichen, Stupfen, Spritzen, Verwischen, Verfliessen lassen oder durch die Verwendung von verschiedensten Pinseln und anderen Werkzeugen werden besondere Reize erzielt. Denn „in der Nähe und in guter Beleuchtung sind die Dinge nicht nur hell oder dunkel, flächig oder plastisch, sondern sie offenbaren auch den Stoff, an den diese Qualitäten gebunden sind. Eine schwarze Fläche wird erkennbar als Papier, Tuch, Leder oder Metall, das schwarz gefärbt ist“ (Boris Kleint). Auch die Glätte oder Porösität des Malgrunds, der Glanz oder die Mattheit der Farbschicht tragen zur sinnlichen Wirkung bei. Um diese nicht durch allzu grelle Farbkontraste zu schmälern, werden mit Vorliebe eher ruhige, erdige Töne verwendet.
6. Überprüfung
Zunächst gilt es, alle handwerklichen Erfordernisse zu berücksichtigen, von der Grundierung bis hin zum Schlussfirnis. Die Langsamkeit (auch bedingt durch die Trocknungszeiten) gehört bei der Stier/Venus-Gestaltung ganz wesentlich zum Arbeitsprozess. Das verschafft Zeit, mit dem Bild vertraut zu werden und allmählich zu spüren, was in der Folge zum Erzielen eines stimmigen Ergebnisses vorzukehren ist. Erreicht ist dieses, wenn nichts mehr das natürliche Zusammenspiel der Bildelemente stört.
7. Formverbindungen
Bei aller Unterschiedlichkeit der Oberflächenbeschaffenheit wird stets darauf geachtet, die einzelnen Bildelemente auf harmonische Art miteinander zu verbinden. Dies kann geschehen durch Vereinheitlichung und Beschränkung, z.B. der Farbkontraste, oder durch den sicheren Zusammenhalt aller Formen in der Komposition, z.B. in einer in sich geschlossenen runden oder ovalen Anordnung der Elemente. Diese wirkt gleichsam als Geste des Inbesitznehmens und der sinnlichen Vergewisserung. Überhaupt dürfen sich hier die einzelnen Bildteile durchaus wohlig aneinanderschmiegen!
8. Spannung
Die ausschliessliche Beschäftigung mit der sicht- und greifbaren Oberfläche kann leicht zu gefälliger Oberflächlichkeit verführen, und die Bedächtigkeit in der Wiedergabe zu Langeweile. In diesen Fällen hilft nur –entgegen der Gewohnheit, sorgsam Erarbeitetes auch sorgsam zu bewahren– das Übermalen oder Abspachteln, um von neuem aufzubauen, beharrlich, bis echte Dichte und Qualität erreicht ist. Es sind nicht zuletzt die sichtbaren Spuren solcher Eingriffe, welche den visuellen Reiz erhöhen. Viele französische Künstler haben eine hohe Malkultur im Sinne des Venus-Prinzips entwickelt, und sie kennen einen speziellen Ausdruck für solche Abänderungsspuren: les repentirs.
9. Vision
Die konkrete Wirklichkeit in ihrer Fülle ist Ausgangspunkt und Ziel zugleich. Im Gestalten werden Erfahrungen konkretisiert, dingfest gemacht, gesichert. Stier/Venus-Bilder sollen daher ein Gefühl für Substanz vermitteln und dem bewegten Treiben der Welt einen ruhenden Pol entgegensetzen. Das Bild wird so zum Symbol des Urvertrauens in unsere natürlichen Lebensgrundlagen und vermittelt darüber hinaus den Zugang zur Schönheit der sichtbaren Welt. Das Auge soll zum Tastorgan werden, das Betrachten zum erotischen Genuss!
10. Vorbilder
Georges Braque (13.5.1882-1963) fügte ab 1912 Tapetenstücke, gemaserte Holzfolien und ähnliches in seine Bilder ein und erfand damit ein Kernstück des synthetischen Kubismus, das “papier collé” – und damit die Collage. Später entfernte er sich zunehmend von Formexperimenten und näherte sich der klassischen französischen Malkultur an.
Viele der Bilder von Jean Fautrier (16.5.1898-1964) weisen einen reliefartigen Grund auf, vor allem aus aufgespachtelter Ölfarbe, die er durch Kratzen, Ritzen, Reiben und andere Techniken weiterbearbeitete, häufig durch zusätzliche, lasierende Farbschichten.
Auch die Werke von Mario Sironi, Fritz Pauli und Martin Lauterburg weisen typische Merkmale der Stier/Venus-Gestaltung auf.
11. Kontext
Ein Bild verkörpert die Wertvorstellungen der Erzeuger*innen und der Besitzer*innen, ebenso wie die Inneneinrichtungen ihrer Wohnungen dies tun, oder ihre Kleider, oder ihr gesamter Lebensstil. Die Bildgattung, welche diesem Bedürfnis ganz besonders entspricht, ist das Stillleben. In der sicheren Umgrenzung des Bildgevierts und des abschliessenden Rahmens werden verwandte Gegenstände zu einer in sich ruhenden (“stillen“) Gruppe versammelt. ”Das Stilleben ist zu einem grossen Teil eine Huldigung an das Leben, und die Beharrlichkeit, mit der die Maler Viktualien und Blumen, schlichte und kostbare Dinge aller Art abbildeten, hängt offensichtlich mit dem menschlichen Widerstreben zusammen, die Flüchtigkeit dieser Augen- und Gaumenfreuden zu akzeptieren.” (David Piper).
12. Essenz
Ein gelungenes Stier/Venus-Bild vermittelt spürbares Wohlbefinden. Unnötige Spannungen sind beseitigt, alle Formen ruhen in sich. Es bleibt die Erfahrung, dass es sich lohnt, schönen Dingen Raum und Zeit zu widmen, und dass ein lustvoller Schaffensprozess und danach der Genuss des Geschaffenen Ruhe und Kraft geben können.
Kunst ist sinnliche Gestalt.
Wilhelm Michel
Ich glaube an die Haut der Dinge, wie ich an die Haut der Frauen glaube.
Le Corbusier
Die Kunst ist ein Mittel, die Dinge der Welt in Besitz zu nehmen ...
Arnold Hauser
Das Format ist die Abgrenzung des Schönen gegen den ganzen übrigen Raum.
Jakob Burkhardt
Die Zwilling/Merkur-Gestaltung
Qualitätskriterien
interessant, erzählerisch, anregend, stimulierend, unterhaltsam, vielseitig, neuartig, Neugier erweckend, intelligent, witzig, ironisierend, schalkhaft, listig, spritzig, unbeschwert
1. Motivation
Triebfeder des Zwilling/Merkur-Gestaltungsprozesses ist die Neugier, der Spass am spielerischen Erfinden und geistreichen Kombinieren und das Bedürfnis, zu kommunizieren.
2. Material
Hier kommen typischerweise Materialien und Techniken zum Einsatz, mit denen sich schnell und sauber arbeiten lässt: Bleistifte, Kugelschreiber, Filzstifte, Lineale, Schablonen, Klebfolien usw. Bevorzugt werden möglichst glatte Zeichenpapiere oder Leinwände, damit klare Linien gezogen werden können oder die Umrisse der Flächen präzise bleiben. Daneben gehören sicher neben einem Fotokopierer mit Spezialfunktionen auch eine Digitalkamera, ein iPad mit einem guten Zeichenprogramm, ein Hellraumprojektor oder ein Beamer und ein schneller Internetanschluss zur Grundausstattung.
3. Anregungen
Kunst ist nicht lernbar, aber die Methode, Beziehungen und Differenzen systematisch zu erkennen. Von Interesse sind deshalb die theoretischen Grundlagen der Gestaltung. Jede Kommunikation benötigt Zeichen, welche gesendet und empfangen werden. Wer sich bildnerisch verständlich machen will, muss Bescheid wissen über diese Zeichen und ihre Verknüpfungsmöglichkeiten: über die Grundelemente Form, Helligkeit, Material und Farbe, welche sich in der Quantität, der Dimension, der Qualität, der Begrenzung und der Verwirklichung unterscheiden und die dadurch die inhaltliche Bildaussage wesentlich bestimmen.
4. Einstimmung
Bei Diskussionen, beim Blättern in Zeitschriften oder in Online-Beiträgen stösst der Zwilling/ Merkur-Typ immer wieder auf eine Vielzahl von interessanten Sachverhalten und Ideen. Er tummelt sich in der bunten Welt der Dinge, Meinungen und Konzepte, mit wachem Spürsinn, und am liebsten in anregender Gesellschaft! Sein Schalk wird sich bei seinen Streifzügen auch immer wieder fragen, was allenfalls zu verändern, zu vertauschen oder zu verwechseln sei, um der Sache mehr Pfiff zu geben.
5. Durchführung
Bildgestaltung beginnt im Kopf! Vielleicht wurden schon erste Ideen in Stichworten und Entwurfsskizzen festgehalten. Vielleicht wird ein Wortspiel mit einem Formenspiel kombiniert, oder die künftigen Betrachter*innen werden durch eine optische Täuschung aufs Glatteis geführt. Jedenfalls sollte die Bildidee gut lesbar und verständlich sein. Was nicht heisst, dass bloss Altbekanntes aufgetischt wird – ganz im Gegenteil!
Gearbeitet wird hier vor allem mit den Mitteln des Grafikers, nicht mit jenen des Malers. Objekte oder Figuren werden signethaft von ihrer typischsten Seite her präsentiert, am besten mit Hilfe von Umrisslinien. Neben dem Silhouettieren kann das Fragmentieren, Verzerren, Miniaturisieren, Strukturieren usw. angewendet werden. Die Linien wechseln sinngemäss in Bezug auf Länge, Dicke, Richtung und Charakter. Die Farbe dient dazu, die Formen klarer zu differenzieren. Es geht hier mehr um ein Kolorieren als um ein Malen: die Farbe, als Lokalfarbe weitgehend unmoduliert, füllt lediglich die vorgezeichneten Flächen aus. Die Farbkontraste (z.B. der Hell-Dunkel-Kontrast, der Kalt-Warm-Kontrast oder der Quantitätskontrast), helfen dabei mit, die inhaltliche Aussage zu verdeutlichen.
6. Überprüfung
Es gilt, sämtliche Gestaltungsmittel mit ihren Möglichkeiten der Kontrastierung auf die beabsichtigte „Pointe“ hin auszurichten. Entsprechen die verwendeten Bildmittel und ihre Wirkung der ursprünglichen Absicht? Blosse Linien etwa wenden sich stärker an unseren Intellekt, während Tonalität und Farbklänge eher unsere Emotionen ansprechen.
Eine wichtige Rolle spielt der Bildtitel. Ist dieser wirklich treffend, oder vielleicht allzu vordergründig?
Um die Verständlichkeit des vorläufigen Ergebnisses zu überprüfen empfiehlt es sich, immer wieder die Reaktionen des Publikums zu testen. Allfällige Missverständnisse entstehen beispielsweise dadurch, dass noch nicht alle Elemente eliminiert wurden, welche sich auf eine mittlerweilen verworfene Bildidee beziehen. Dadurch entsteht ein Widerspruch zur neuen Gestaltungsabsicht, den es aufzulösen gilt.
7. Formverbindungen
So wie aus Buchstaben und Satzzeichen Wörter und Sätze gebildet werden und dadurch schliesslich ganze Texte entstehen, so lassen sich die einzelnen Bildelemente zu einem lesbaren Bild zusammensetzen. Der Zusammenhalt ergibt sich dabei inhaltlich durch die zu vermittelnde Idee, formal durch die grafisch klare Ausführung. Dazu gehört vorab die sinngemässe Wahl der kompositorischen Organisation (siehe Kapitel 7 der Steinbock/Saturn-Gestaltung).
8. Spannung
Die Informationstheorie besagt, dass die Signale des Senders (hier die Bildelemente in ihrer formalen und inhaltlichen Dimension) dann vom Empfänger verstanden werden, wenn sie grösstenteils zu dessen Repertoire gehören. Sind alle gelieferten Informationen völlig unbekannt, so ist keine Verständigung möglich. Sind sie aber alle bereits im Repertoire des Empfängers vorhanden, so wird er bald das Interesse verlieren, weil er nichts Neues erfährt. Also gilt es, die richtige Mischung zu treffen, damit das Bild eine packende Wirkung erzielen kann. Besondere Spannung tritt also dann ins Bild, wenn auch Rätselhaftes, Widersprüchliches, Paradoxes thematisiert wird.
9. Vision
Das Zwilling/Merkur-Bild soll Denkanstoss sein, ebenso lehrreich wie unterhaltsam. Es soll neue Ideen und Sichtweisen vermitteln, welche gerne auch überzeichnet dargestellt werden dürfen, um die Meinungen zu polarisieren und gedankliche Prozesse anzuregen. Durch die Variation der Standpunkte soll das Relative bewusst gemacht werden. Neben dem Diskurs und dem Spass geht es aber auch einfach um ein Staunen über den menschlichen Erfindergeist!
10. Vorbilder
Der Holländer Maurits Cornelis Escher (17.6.1898-1972) “experimentierte in seiner Grafik mit Formen und ihren Metamorphosen mit dem Ziel spielerischer Verwirrung der Sinne. Vexierbildhaft gebraucht er die Perspektive und kombiniert Gegensätze wie Tag und Nacht, Innen und Aussen so, dass die Absurdität der Anordnung erst nach genauerer Betrachtung auffällt.” (“Lexikon der Malerei”, Unipart).
Der kalifornische Konzeptkünstler John Baldessari (17.6.1931-2020) war ein Vertreter der
“Narrative-art”. Seine Collagen, Fotoserien und Videoarbeiten sind bunt und disparat wie die Welt der Massenmedien, aus deren Fundus er sich für seine Motivpuzzles bedient hat. Seine
Bildserien „berichten anhand einer Obst essenden Schönheit von der Farblehre, fassen eine Fahrt von Los Angeles nach Santa Barbara mit Fotografien der überholten Lastwagen zusammen oder illustrieren die Märchen der Gebrüder Grimm mittels Filmstills.” (A. Kachelriess). Das gesamte Werk von Markus Raetz (6.6.1941-2020) wurde oft als “Schule des Sehens” bezeichnet – eine sehr vergnügliche und abwechslungsreiche Schule allerdings! Im Zentrum von Raetz’ experimenteller Arbeit stehen die Prinzipien von Bewegung und Veränderung, welche er auf thematisch und technisch äusserst vielfältige und oft sehr witzige Weise durchgespielt hat.
Auch die Werke von Verena Löwensberg, Ellsworth Kelly, Jean Tinguely, Jörg Immendorf, Christian Rothacher und Rolf Winnewisser gehören in diesen Zusammenhang.
11. Kontext
Bildgestaltung entspricht im Zwilling/Merkur-Bereich, sehr allgemein und abstrakt gesagt, der Bewegung im mentalen Raum. Denken und Zeichnen fallen zusammen.
Von Interesse sind besonders all jene bildnerischen Gattungen, in denen direkte Bezüge zum begrifflichen Denken bestehen: die Illustration, der Cartoon, der Comic und das grafische Design (Werbung, Signete, Briefmarken usw.). Immer geht es um visuelle Kommunikation, also um Informationsvermittlung über den Sehsinn.
12. Essenz
„Leben ist Spiel, Bewegung, ständiger Wechsel. In dem Moment, wo Leben fixiert wird, ist es tot und uninteressant.“ (Jean Tinguely). Zwilling/Merkur-Bilder liefern durch ihre Motive, ihre Heiterkeit und ihre Leichtigkeit eine treffliche Veranschaulichung dieser Devise.
Zwar weiss ich viel, doch möcht ich alles wissen.
Famulus Wagner in Goethes “Faust”
Kunst ist, was von Kunstexperten in angesehenen Museen, Ausstellungshäusern, Zeitschriften und Büchern als Kunst vorgestellt wird.
Willi Bongard
Das Bild ruft nach einer Linie, hinter der es verschwinden kann. Eine Verbindung, die eine Empfindung wird. Empfindung, die Gedanke wird. Gedanke, der Bild wird. Bild, das Gestammel wird. Gestammel, das Sprache wird. Sprache, die Bild wird.
Rolf Winnewisser (”Bild- und Textkürzel. Asymmetrisches und Reziprokes”, 1978)
Die Krebs/Mond-Gestaltung
Qualitätskriterien
gefühlvoll, beseelt, stimmungsvoll, atmosphärisch, romantisch, sehnsüchtig, lyrisch, phantasievoll, sensibel, persönlich berührend, intim, liebevoll, sanft, verträumt
1. Motivation
In einer Welt der Taten (Widder/Mars), des Besitzes (Stier/Venus) und des Intellekts (Zwilling/ Merkur) will durch die Krebs/Mond-Gestaltung das Seelische sichtbar und spürbar werden. Geschöpft wird aus Gefühlen und Stimmungen, und diese zutieftst subjektiven Wirklichkeiten sollen Form werden.
2. Material
Bevorzugt werden hier Wasserfarben oder verdünnte Tusche, aber auch Kohle und verwischbare oder vermalbare Kreiden. Die Ölmalerei erlaubt weiche Passagen und feine Modulierungen, welche der langen Trocknungszeit der Farbe wegen immer wieder nuanciert werden können. Jedenfalls sollte das ausgewählten Material keine allzu grossen handwerklich-technischen Probleme bieten, damit die Aufmerksamkeit bei der direkten Umsetzung der inneren Bilder bleiben kann.
3. Anregungen
Der Wirklichkeitsbegriff, der einem bloss sachlich-abbildenden Gestalten zugrunde liegt, ist ein sehr enger, da er die emotionale Dimension der Wirklichkeit ausser acht lässt. Hier geht es aber darum, den direkten, kindlichen Ausdruck des Gefühlsmässigen und Seelischen wieder zu finden. Darstellungstechnische Fertigkeiten, um damit möglichst schnell effektvolle Bilder herzustellen, werden aus der Krebs/Mond-Sicht heraus nicht zum Ziel führen. Anregungen lassen sich vielmehr in der Welt der Sagen und Märchen finden, oder in bestimmten Gedichten.
4. Einstimmung
Die äussere Welt der Erscheinungen kann zwar innere Bilder in besonderen Momenten spiegeln, doch das eigentliche Sehen geschieht hier mit geschlossenen Augen. Abschirmung gegen äussere Reize kann helfen, sich gefühlsmässig in jenen –vielleicht weit zurückliegenden– Bereich hineinzubegeben, aus dem heraus emotional berührende Bilder entstehen. Möglicherweise sind es auch ganz bestimmte Musikstücke, welche helfen, sich auf die kommende Arbeit einzustimmen. Jedenfalls lässt sich der Krebs/Mond-Typ viel Zeit, mit dem Bilde “schwanger zu gehen”, damit die Gefühle sich verdichten können.
5. Durchführung
Auf diese Weise wird allmählich erspürt, wie klein oder wie gross der wichtigste Darstellungsgegenstand im Bild erscheinen soll, in welcher Beleuchtung und an welchem Ort. Denn diese Orte –das Unten und das Oben, der Rand und die Mitte, das Vorne und das Hinten– haben ihre eigene Aussagekraft. Die Ausführung erfolgt nun rein intuitiv, immer gefühlsmässig eng verbunden mit dem erschauten Motiv. Ob mit Stiften, Kreiden, Pinseln oder Schwämmen: In rhythmischen Bewegungen können sich Linien und Flecken zu Knäueln verdichten und sich auch wieder verflüchtigen, durch Wegwischen oder Übermalen. Zu helle Partien werden verdunkelt, zu dunkle ins Licht gerückt. Zu harte Umrisse werden leicht verwischt und dadurch eine “Sfumato”-Wirkung erzielt (ital. sfumare = verrauchen; abtönen). Durch die feinen Abstufungen der Grautöne entsteht vielleicht auch die Illusion einer Raumtiefe, von einem nahen Vordergrund hin zu einem fernen Horizont und einem ”Sehnsuchtspunkt”.
Der Prozess der Bildwerdung kann manchmal durch launische und sogar widersprüchliche Impulse gesteuert werden. Doch ein voreiliges Verstehenwollen und Begradigen würde den
Zugang zur Quelle –dem Unbewussten– verschliessen. Ein werdendes Bild ist wie ein kleines Kind: Es will umsorgt sein und liebevoll gehegt und gepflegt werden. Zu erwarten ist Entwicklung, nicht Perfektion. “Die Liebe ist alles in der Kunst. Ohne Liebe kann man nichts malen, man kann keinen Grashalm malen, wenn man ihn nicht liebt.” (Max Liebermann).
6. Überprüfung
Der Krebs/Mond-Typ wird immer wieder in jene ganz persönlichen Gefühle eintauchen, welche ihn am Anfang seiner Arbeit durchdrungen haben, und sich fragen, ob die Darstellung, so wie er sie jetzt vor sich hat, dieser Stimmung gerecht wird. Vielleicht muss er die äussere Realität sehr stark verformen, bis sie seine innersten Ängste und Träume zu tragen vermag.
Gibt es noch “unbeseelte“ Stellen in seinem Bild, um die er sich eingehender kümmern sollte? Sind einige Übergänge zu hart, andere zu weich? Sollten ganze Zonen leicht aufgehellt oder stark verdunkelt werden?
7. Formverbindungen
Nicht selten weisen Krebs/Mond-Bilder eine duale Situation auf, in der sich formal z.B. die hellen Partien aus den dunklen herauslösen, teils schroff, teils in fliessenden Übergängen. Im Gegensatz zu den Hell-Dunkel-Kontrasten werden die Farbkontraste eher gedämpft eingesetzt, etwa so, wie dies bei starkem Gegenlicht oder in einer Vollmondnacht zu beobachten ist.
8. Spannung
Es sind nie akademische Rezepte oder rein ästhetische Erwägungen, die den Gestaltungsprozess leiten, sondern einzig die tieferliegende “Geschichte“, welche sich durch die Darstellungsgegenstände hindurch mitteilen will. Dadurch kann das kompositorische Gleichgewicht, wenn innerlich notwendig, sehr fragil bleiben. Spannung entsteht allenfalls auch auf der inhaltlichen Ebene, wenn starke Gefühle erzeugt werden, seien dies Ängste oder Sehnsüchte, und wenn Eigenes, Vertrautes auf Fremdes und Unheimliches trifft.
9. Vision
Die aus der Tiefe geschöpften Bilder sollen zum Ort der Sensibilisierung für all jene werden, die sich darauf einzustimmen vermögen. Sie sollen ermöglichen, wie Marion Milner schreibt, unsere inneren Götter und Teufel besser zu erfassen sowie alles, was wir hassen und was wir lieben oder lieben möchten. Dadurch erhält unser Leben eine klarere Form, ein erkennbares Muster, welches uns aus der Beliebigkeit zufälliger Umstände errettet.
10. Vorbilder
Die deutsche Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz (8.7.1867-1945) schuf ausdrucksstarke Figurendarstellungen, welche ihr tiefes menschliches Mitgefühl und ihr soziales Engagement für das Proletariat spiegeln. Käthe Kollwitz zeichnete oft mit Kohle, einem Medium, das weiche Übergänge ebenso wie scharf umrissene Konturen ermöglicht, Fragilität ebenso wie optische Festigkeit.
Marc Chagall (7.7.1887-1985) “... ist einzigartig in der Tiefe seines Gefühls, das ihn durch die
Vordergründe seines personalistischen Daseins zu den Grundsymbolen der Welt trug, dem
Hintergrund allen personalen Daseins. ... Die Einheit und Überzeugungskraft seiner Bilder ist Ausdruck seines Gehorsams, in dem er medial die Intention seines Unbewussten aufnimmt und unbeirrt von den Eindrücken und Einflüssen der Umwelt der inneren Stimme, die in Bildern zu ihm spricht, folgt.“ (E. Neumann).
Jean-Christophe Ammann hat über den Entstehungsprozess der Bilder von Miriam Cahn (21.7.1949) geschrieben, dass er “von der Stimmung, der körperlichen und seelischen Disposition der Künstlerin abhängig ist. Die Motive sind wie Matrices (Mutterformen), die immer wieder mit neuer Energie ‘aufgefüllt’ werden: Mit der Energie des Tages, der Stunde, der Freude, der Wut und Trauer, des Kämpfens, des Aufsichhorchen- und Sichempfindenkönnens.”
11. Kontext
Bei der Krebs/Mond-Gestaltung ist der Inhalt des Bildes das eigentliche Anliegen. Was die Form betrifft, so lässt sich aber feststellen, dass das Element Wasser sich in der Bildgestaltung gerne “impressionistisch” ausdrückt, d.h. durch eine aufgelockerte, bisweilen pointillistische Malweise, welche die unterschiedlichen Vibrationen des Lichtes wiedergibt. Degas, Pissarro und Liebermann sind im Zeichen des Krebs geboren; Bonington (ein Vorläufer des Impressionismus), Sisley, Signac und Vuillard im Skorpion; Renoir in den Fischen. Ein bevorzugtes Thema der Impressionisten war die Landschaft in all ihren stetig sich wandelnden Licht- und Witterungsverhältnissen.
12. Essenz
Der Gehalt der Krebs/Mond-Bilder ist zutiefst subjektiv. Diese Bilder ermöglichen die Begegnung mit der Innenwelt. Die Zeichnung oder Malerei wird auf diese Weise zur sicheren Behausung für das Gefühl und die Seele mit all ihren Ängsten und all ihrem Sehnen.
Kunst ist Beseelung des Stoffes.
Bettina von Arnim
Die Kunst aber ist kein Handwerk, sondern Vermittlung von Gefühlen, die der Künstler empfunden hat.
L. Tolstoi
Mach, dass er seine Kindheit wieder weiss, Das Unbewusste und das Wunderbare, Und seiner ahnungsvollen Kinderjahre Unendlich dunkelreichen Sagenkreis.
R. M. Rilke
Der Quellort des Kunstwerks, die innerste Zone des künstlerischen Schaffens ist die “Seele”, das “Unterbewusstsein”, das “Gefühl”. Hier ist das Reich der Ein-Fälle, der Intuition, der Phantasie.
Diese Zone bestimmt die schöpferische Kraft, das Temperament, die Originalität des Künstlers. In diesen Tiefenschichten sammeln sich die Erlebnisse und Eindrücke und sie werden hier weit genauer und getreuer bewahrt als im Bewusstsein, insbesondere die entscheidensten, die der Kindheit. Hier wohnen die Engel und Dämonen. Hier wird das Sich-Wundern geboren, aus dem die Inspiration, die Bewunderung, die Ehrfurcht erwächst.
Gerhard Gollwitzer
Die Löwe/Sonne-Gestaltung
Qualitätskriterien
selbstbewusst, ausdrucksstark, stolz, kraftvoll, vital, offenherzig, strahlend, prächtig, imposant, beeindruckend, eigenwillig, schöpferisch, charismatisch, dominant
1. Motivation
Es ist reine Gestaltungsfreude, welche zum Malen motiviert. Hier herrscht die Bereitschaft, das seit der frühen Kindheit vorhandene kreative Potenzial frei und grosszügig zu nutzen. Der Löwe/Sonne-Typ will mit seiner Malerei selbstbewusst und kraftvoll nach aussen treten, gleichsam um der Welt zu zeigen, wer er ist!
2. Material
Arbeitsraum und Material sollten deshalb grosszügig bemessen sein. Farben in leuchtkräftiger Qualität und reichlicher Quantität sind hier am geeignetsten. Die Pinsel (vor allem Rundpinsel aus soliden Borsten) sollten ausreichend gross sein. Auch die Dimension des Bildgrundes darf den “Auftritt” nicht beengen.
3. Anregungen
Der Löwe/Sonne-Typ ist der geborene Autodidakt. Er wählt die für ihn wichtigen Kenntnisse und Techniken intuitiv aus und eignet sie sich selbst an. Er wird schnell lernen, beim Malen seine persönlichen Farbklänge durch die richtige Farbart, Farbhelligkeit und Farbintensität zu erzeugen, und er wird zu jenen Formen finden, welche ihm –und nur ihm allein– am besten entsprechen. Allenfalls können hervorragende Künstlerpersönlichkeiten als Vorbilder dienen und zu eigenständiger Gestaltung animieren. Doch letztlich will er alles selber ausprobieren und nach seinen ganz individuellen Vorstellungen erschaffen.
4. Einstimmung
Der Löwe/Sonne-Typ ist sich der Einmaligkeit seiner Wesensart bewusst: Niemand anderes als er selber kann diese zum Ausdruck bringen. Und wenn er dies –aus welchem Grund auch immer– nicht tut, dann geht etwas sehr Wertvolles verloren: die Wirkung und Ausstrahlung seiner unverwechselbaren Persönlichkeit! Es kommt nun einzig und allein auf ihn selber an, wie sich das Spiel auf der Bildfläche entwickeln wird.
5. Durchführung
Die vielbesagte Angst vor dem leeren Blatt ist hier kein Thema! Der Vorhang geht auf, die Bildfläche wird zur Bühne, und das Schauspiel mit all seinen Farb- und Formereignissen nimmt seinen Lauf, souverän gesteuert durch einen selbstbewussten Regisseur. Er weiss: Durch seine ganz individuelle Art kann er jedes beliebige Motiv zum Abbild seiner eigenen Persönlichkeit umformen. Er schöpft aus der Fülle der nur ihm eigenen inneren Klänge und orchestriert sie mit seiner ganzen Spannkraft und Präsenz. Jede Werkspur ist ein Ereignis, das zählt. Würde er zu langsam arbeiten, verlören die Formen ihre innere Kraft, doch würde er zu schnell voranstürmen, so könnte er Farben und Formen nicht mehr mit seiner vollen Präsenz aufladen. “Im Gegensatz zum Krebs leuchten die Gestalten nicht von reflektiertem Licht (Mond), sondern die Gestalten leuchten aus sich selbst (Sonne)” (W. Döbereiner). So treten nach und nach alle Farben, die zum Leben erweckt werden wollen, ins Rampenlicht der Bildfläche, feiern ihren Auftritt, strahlen von innen heraus, füllen mit sicheren, dynamischen Bewegungen den Raum und erhalten so wie von selbst ihre Form.
6. Überprüfung
Auf “Verbesserungen” sogenannter Fehler und Ungenauigkeiten wird grosszügig verzichtet. Das Bild soll vor allem eigenwillig sein, im besten Sinne des Wortes, ohne dabei in hohle
Dramatik zu verfallen. Was zählt, ist die intensive Wirkkraft aller Farben und Formen, ihre Ausstrahlung. Die Fallen, in welche der Löwe/Sonne-Typ allenfalls geraten kann, sind der prahlerische Ausdruck, der bloss Eindruck machen will, und das Imponiergehabe mit hohler “Ausstellungskunst”. Wesentlich für das Gelingen ist die Echtheit aller Gesten und Spuren, d.h. ihr tatsächlicher Erfahrungs- und Erlebnisgehalt. Und zum Schluss wird das Bild ganz selbstverständlich mit der persönlichen Signatur geadelt!
7. Formverbindungen
Nicht nur dem Hauptmotiv gilt unsere Aufmerksamkeit: Auch Nebenrollen wollen gut besetzt sein! Entsprechend sind alle Teile des Bildes und sämtliche Werkspuren Ausdruck des persönlichen Gestaltungswillens. Jedes einzelne Element trägt auf selbstverständliche Weise zur Identität des Ganzen bei. Alles ist wie aus einem Guss.
8. Spannung
Ausdrucksstarke Bilder zeugen von der überwältigenden Erfahrung, lebendig zu sein, und dem Wissen, dass alles letztlich Teil eines grossen Schöpfungsprozesses ist. Offenherzig wird das Bild mit vitalen Farb- und Formkontrasten versehen, je nach dem besonderen Charakter, mit dem die verschiedenartigen Darstellungsgegenstände ausgestattet werden sollen. Und niemals werden sich diese expressiven Formen durch einen kleinlichen Realitätssinn knechten lassen!
9. Vision
Der Löwe/Sonne-Mensch freut sich, sein Dasein mit kraftvollen, ausdrucksstarken Dingen zu teilen. Und er weiss intuitiv, dass letztlich er selber der Welt grösstes Geschenk ist! Wenn er zu seiner Mitte kommt, dann werden seine Bilder unweigerlich die Kraft haben, auszustrahlen und kreative Feuer zu entfachen!
10. Vorbilder
Emil Nolde (7.8. 1867-1956) malte leidenschaftliche Figuren-, Landschafts- und Blumenbilder.
In diesen Bildern “... wird der Raum in grosse Farbballen zusammengefasst. Es ergibt sich ... der Eindruck von Fülle und Kraft wie von ungefilterter und unmittelbarer Gegenwärtigkeit des Erlebens.“ (W. Döbereiner).
Chaim Soutine (9.8.1894-1943) malte Figuren- und Landschaftsbilder sowie Stillleben in leuchtenden, reich orchestrierten Farben. Seine expressionistisch verformende Ausdrucksweise ist stets beeindruckend, bisweilen auch erschreckend.
Die Bilder von Leiko Ikemura (21.8.1951) sind “Projektionen aus ihrem ganzen Selbst: es sind
Elementarsituationen, die mit grosser SelbstverständIichkeit vom natürlich-kreatürlichen
Horror berichten, von ihrer Lust, von ihrer Angst, von ihrer Zerrissenheit ... Bildfindung und Malweise gehen bei Leiko Ikemura immer Kopf in Hand und Hand in Kopf: Anschauung und Gestus wollen zu einer Einheit gebracht werden.” (Max Wechsler).
Auch Erich Heckel, Jean Dubuffet und Andy Warhol sind auf ihre je eigene Weise Repräsentanten des Löwe/Sonne-Prinzips.
11. Kontext
Die Tatsache, dass bisweilen eine bildnerische Gestaltung unsere ganze Aufmerksamkeit erregt, während wir andere kaum beachten, liegt oft an etwas, das schwer zu beschreiben ist, aber umso stärker wirkt: Es ist die Persönlichkeit der Gestalterin oder des Gestalters, welche sich in diesem besonderen Werk unverstellt auszudrücken vermochte. Das gelungene Löwe/Sonne-Bild zeigt uns sehr eindrücklich, was alles möglich wird, wenn eine Person sich entschliesst, konsequent ihren eigenen Weg zu gehen.
In unserer Kultur ist der körperliche Ausdruck von Gefühlen eher eingeschränkt, besonders nach der Kindheit. Diese unterdrückten Bewegungsimpulse haben höchstens die Möglich- keit, sich in Träumen zu zeigen. Durch den physischen Akt des Malens können sich die eingeschlossenen Impulse endlich befreien.
Die Individualität und das persönliche Schicksal des Menschen machen im Grunde genommen jede Zeichnung und jede Malerei auch zu einem Selbstbildnis. Die Entscheidung, die eigene äussere Erscheinung direkt zum Bildgegenstand zu machen, ist so gesehen naheliegend. Beim Betrachten von Selbstbildnissen gewinnen wir Einblick in den forschenden Dialog der Künstler*innen mit sich selbst. Wir stehen dem auf Papier oder Leinwand gebannten Ausdruck ihrer Wünsche, Ängste und Hoffnungen gegenüber. Ihre Persönlichkeit kann sich dabei auch hinter den vielfältigsten Masken verbergen. Untrennbar verknüpft mit der inhaltlichen Darstellung ist der formal-gestalterische Vortrag. Erst die stimmige Verbindung dieser beiden Aspekte definiert die jeweilige Künstlerpersönlichkeit.
12. Essenz
Künstlerischer Ausdruck hat mit der Sehnsucht jedes einzelnen Menschen zu tun, in seinem Innersten erkannt zu werden. Im Gestaltungsprozess suchen der Maler oder die Malerin sich selbst in ihrer Schöpfung. Kunst ist der immer erneute Versuch der Selbstdarstellung. Beim Betrachten eines Löwe/Sonne-Bildes wird spürbar, dass es vor allem das Herz ist und nicht der Kopf, dessen Wirken unmittelbar berührt; und dass letztlich der lebendige Prozess wichtiger ist als das konkrete Resultat.
Kunst ist der immer erneute Versuch der Selbstdarstellung des Menschen.
Armin Sandig
Letztlich will der Künstler in uns vielleicht uns selber kreieren. Und durch uns auch die Welt, denn unsere Sicht auf das eine durchdringt sich mit der Sicht auf das andere.
Marion Milner
Die wichtigste und schönste Aufgabe des Rots, des Blaus, des Grüns usw. ist es, rot, blau und grün zu sein. So hat die Farbe ihre eigentliche Grösse, und erst, wenn sie allein steht, sieht man, dass sie so etwas ist wie eine Hauptsache der Kunst.
Max von Mühlenen
Die Jungfrau/Merkur-Gestaltung
Qualitätskriterien
sachlich, zweckdienlich, funktionell, methodisch, sauber, ordentlich, präzise, detailliert, akribisch, ökonomisch, bescheiden, angemessen, rational, klar verständlich, didaktisch, nüchtern, kühl
1. Motivation
In der Jungfrau/Merkur-Gestaltung sollen all die Impulse, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle geordnet und in einem rationalen Prozess verarbeitet und bildhaft dokumentiert werden. Durch diese Arbeit soll das darstellungstechnische Können perfektioniert und der analytische Verstand geschärft werden.
2. Material
Hier können sämtliche Hilfsmittel zum Einsatz kommen, die ein exaktes, sauberes Arbeiten erlauben, so wie in der Gebrauchsgrafik oder beim wissenschaftlichen Zeichnen üblich. Aber auch die manuellen Drucktechniken oder die Air-brush-Technik können von Nutzen sein. Besondere Sorgfalt wird zudem auf den Unterhalt der Werkzeuge verwendet – nicht nur aus Sparsamkeit, sondern auch aus Achtung vor qualitativ hochwertigem Material.
3. Anregungen
Jedes Bild besteht zunächst einfach aus Materie: Papier oder Leinwand, Grafit oder Pigmente usw. Diese Materialien haben ihre eigenen Gesetzmässigkeiten, die zu berücksichtigen sind. Vieles lässt sich aus Büchern und in Kursen lernen, doch am nachhaltigsten wirken eigene Materialversuche. Der Jungfrau/Merkur-Typ wird immer wieder neue Techniken erproben und sich so viel praktisches und theoretisches Wissen aneignen wie nur möglich, denn er wird möglicherweise in Situationen geraten, wo dieses aus einer bestimmten Aufgabenstellung heraus gebraucht werden kann.
Zur notwendigen Ergänzung dazu wird das gesamte Wissen benötigt, das sich auch der Zwillinge/Merkur-Typ zu eigen macht.
4. Einstimmung
Bei der geplanten Darstellung eines gegenständlichen Motivs wird dieses zunächst von allen
Seiten her genau betrachtet, um seine Machart zu verstehen und sämtliche Feinheiten wahrzunehmen. Möglicherweise liefert eine kurze Recherche im Internet nützliches Wissen für die bevorstehende Arbeit. Danach werden ein paar kleinere Skizzen und Studien angefertigt, welche die räumlichen Verhältnisse klären. Aufsichten, Seitenansichten und Querschnitte bringen weitere Erkenntnisse. Die Frage nach dem geeignetsten –d.h. informativsten– Blickwinkel ist hier besonders wichtig.
Bei ungegenständlichen Bildern kann eine Dokumentation über schon Geleistetes von Nutzen sein und das Nachdenken darüber, wie man diese Resultate weiterentwickeln könnte. Die Darstellungsabsicht muss in jedem Fall in einem realistischen Verhältnis zu den Ressourcen stehen. Reichen das Können und die verfügbare Zeit aus? Wenn nicht, wird das Vorhaben von Anfang an redimensioniert.
5. Durchführung
Der Reinzeichnung kann noch einmal ein Zwischenschritt vorausgehen, indem ein Entwurf im Massstab 1:1 übertragen wird, sei es an einem Leuchtpult oder durch eine Projektion. Im Verlauf der weiteren Arbeit wird immer wieder darauf geachtet, einerseits die einzelnen Teile in ihren kubischen Eigenschaften und ihrer besonderen Oberflächenbeschaffenheit klar zu differenzieren, und anderseits ihre Beziehungen zum Formganzen aufzuzeigen. Die funktionellen Verbindungen der Einzelteile werden möglichst klar veranschaulicht, so wie wir sie z.B. im Körper des Menschen und des Tieres vor uns haben, oder in Pflanzen oder Landschaften. Die perspektivische Wiedergabe eines Gegenstandes oder Körpers erfordert allenfalls den entsprechenden perspektivischen Umraum, auf den er bezogen ist. Wird bewusst eine räumliche Wirkung im Bild beabsichtigt, so lässt sich diese durch Überschneidungen, die Grössenperspektive, die Beleuchtung, die Zentralperspektive, bei Landschaften die Luft- und die Farbperspektive erreichen. Speziell bei der Darstellung von Objekten werden formbegleitende Schraffuren verwendet, damit die Lage der einzelnen Ebenen im Raum eindeutig lesbar wird.
6. Überprüfung
Die Arbeit der Reflexion und der Analyse beim Gestalten ist immer eine Zweifache: Sie bezieht sich sowohl auf den Gegenstand der Darstellung als auch auf die Darstellung an sich. Es wird gefragt, was wirklich nötig ist und was nicht. Was dient dem eigentlichen Anliegen, und was ist bloss mechanische Fleissarbeit? Auch darf technische Perfektion nicht Selbstzweck sein und zu Pedanterie verkommen. Und nicht zuletzt: Wie steht es mit der Verwendbarkeit der vorliegenden Arbeit? Welches sind die Bedürfnisse der potentiellen ”Benutzer*innen”? All diese Fragen lassen sich am besten in Gesprächen mit Fachpersonen klären. Aussensicht verschafft kritische Distanz.
7. Formverbindungen
Die verschiedenen Elemente im Bild werden durch die Sachdienlichkeit der technischen Ausführung und vor allem durch die klare Gliederung zusammengehalten. Eine solche Ordnungsfunktion kommt beispielsweise dem zentralperspektivischen Fluchtpunkt zu, auf den die unterschiedlichen Bildelemente bezogen sind. Die einzelnen Gegenstände sind so zwar voneinander getrennt, aber doch in einer logischen Ordnung zusammengefasst.
Bei ungegenständlichen Darstellungen ist die Geometrisierung ein probates Mittel, die Bildelemente einfacher lesbar zu präsentieren.
Gleich wie ein Uhrwerk verkörpert das Jungfrau/Merkur-Bild das Ineinandergreifen der einzelnen, klar erkennbaren Teile zu einer perfekt funktionierenden Mechanik.
8. Spannung
Emotionale Spannung ist bei der Betrachtung solcher Bilder nicht zu erwarten, aber es kann sehr anregend und lehrreich sein zu sehen, wie eine präzise Darstellung, welche sachlich und didaktisch gekonnt das Wesentliche veranschaulicht, die Komplexität funktionaler Zusammenhänge nachvollziehbar macht. Spannung reduziert sich hier also einfach auf die Verwendung jener Kontraste, die zur sachdienlichen Veranschaulichung unbedingt erforderlich sind.
9. Vision
Die Jungfrau/Merkur-Gestaltung soll den Blick öffnen für die Welt der alltäglichen Dinge und Erfahrungen und einen klar überprüfbaren Bezug zur Wirklichkeit (auch der Wirklichkeit der abstrakten Gedanken) herstellen. Die so entstandenen Bilder sollen im weitesten Sinne der Realitätsbewältigung dienen: Sie sollen praktische Orientierungshilfe leisten, die Unterscheidungsfähigkeit fördern und tauglich sein als modellhafte Werkzeuge zur kontrollierten Erforschung der Welt.
10. Vorbilder
Der Maler, Bildhauer, Bühnenbildner und Bauhauslehrer Oskar Schlemmer (4.9.1888-1943) widmete sich in seinen Bildern ganz dem Thema der menschlichen Figur im Raum. Den menschlichen Körper reduzierte er in seinen Darstellungen zunehmend auf Grundformen, welche er in einen konstruktivistischen Bezugsrahmen stellte. Schlemmers klare Bildkompositionen haben zweifellos auch die Funktion der Bannung des andrängenden Chaos irrationaler Kräfte, wie sie sich im Nationalsozialismus manifestierten.
Richard Paul Lohse (13.9.1902-1988) arbeitete mit standardisierten Bildmitteln: streng rechtwinkligen, gesetzmässig rhythmisierten Farbflächen in modularen, seriellen Ordnungen. Seine “Konkrete Kunst”, welche sich ganz auf Rationalität berief, erläuterte er in verschiedenen kunsttheoretischen Texten.
Sol Le Witt (*9.9.1928-2007) war ein Hauptvertreter der Minimal Art und Conceptart in den USA. Seine 3-dimensionalen Konstruktionen, seine Wandmalereien, Zeichnungen und Druckgrafiken erlaubten ihm, distanziert und emotionslos einfache formale Bildprinzipien sichtbar zu machen.
Die Arbeiten von Theo van Doesburg und Graham Sutherland weisen ebenfalls spezifische Aspekte der Jungfrau/Merkur-Gestaltung auf.
11. Kontext
„Wer mit Bildern nicht umgehen kann, bleibt ungebildet“ (Peter Jenny). Doch wie funktioniert auf der physiologischen und psychologischen Ebene die Wahrnehmung von Bildern überhaupt? Die Gestalttheorie versucht die Mechanismen der Deutung von Bildeindrücken zu erklären. Sie zeigt die Strategien auf, mit denen unser visuelles Wahrnehmungssystem durch Ordnen und Zusammenfassen das Erkennen und Verstehen unserer Umwelt ermöglicht. Dabei gibt es kein voraussetzungsloses Sehen, das Wissen spielt immer ins Schauen –und daher auch ins Zeichnen und Malen– hinein. Der Grad der Wahrnehmung hängt unauflöslich mit dem Grad dieses Wissens zusammen. Dabei nehmen wir nur wahr, was wir –bewusst oder unbewusst–, wahrzunehmen begehren. Diese Einsicht erhöht jedoch zwangsläufig die Skepsis gegenüber der Vorstellung einer objektiven Sicht auf die Dinge.
12. Essenz
Eine gelungene Jungfrau/Merkur-Arbeit basiert auf methodischem Vorgehen und überzeugt durch die handwerklichen Fertigkeiten und den nachvollziehbaren, sachlich begründeten
Inhalt. Dadurch werden bei den Betrachter*innen die Wahrnehmungsfähigkeit und das Differenzierungsvermögen weiter verfeinert, was auch in Lebensbereichen ausserhalb des Bildnerischen von Nutzen ist.
Die Kunst ist, wie Kleanthes geglaubt hat, die Fähigkeit, einen Weg, d. h. ein Ordnungssystem anzulegen.
Quintilian
Alles messen, was messbar ist, und alles messbar machen, was es noch nicht ist.
Galileo Galilei
Was ist das schwerste von allem ? Was dich das leichteste dünkt: mit den Augen zu sehen, was vor den Augen dir liegt.
Goethe
Gefragt ist ... die Bewusstheit und Klarheit der Linienführung, die Verhaltenheit von Form und Farbe, insgesamt das sich ‘Zusammennehmen’ und ‘Zurückhalten’ bis hin zur völligen Unbeweheit.
Wolfgang Döbereiner
Unsere grössten Ressourcen sind Fehler. Sie machen Abweichungen und Differenzen deutlich und sind damit eine Grundlage für Wahrnehmung. Richtig - Falsch sind nicht isolierte Wertungen, sie sind es in gegenseitiger Abhängigkeit.
Peter Jenny
Die Waage/Venus-Gestaltung
Qualitätskriterien
harmonisch, integrierend, wohltemperiert, kultiviert, diplomatisch, ausgeglichen, elegant, schön, ästhetisch, geschmackvoll, modisch, stilvoll, dekorativ, charmant, reizvoll, anziehend, einnehmend, verführerisch
1. Motivation
Der Waage/Venus-Typ will Gegensätzliches modellhaft in eine harmonische Beziehung bringen. Aus der Liebe zu Bildern als ästhetische Erscheinungen erwächst der Wunsch, ebensolche Bilder zu kreieren. Dadurch wird gestaltend die eigene Welt mit der Welt der anderen in einem kultivierten Dialog verbunden.
2. Material
Hier lockt die ganze Fülle der Möglichkeiten! Jede der üblichen Techniken kann dazu dienen, vorhandene Vorstellungen stilvoll umzusetzen. Zudem lassen sich viele dieser Zeichen- und Malmittel sehr gut untereinander kombinieren. Speziell geeignet ist hier die Technik der Collage. Sie erlaubt den Einbezug des ”attraktiven Fremden”, welches unverändert, aber ästhetisch effektvoll integriert werden kann.
3. Anregungen
In jedem Gestaltungsprozess geht es darum, Einzelteile in eine bestimmte Beziehung zueinander zu setzen. Der Waage/Venus-Typ wird sich ganz besonders für die verschiedenen Fügungsmöglichkeiten interessieren. So können die Bildelemente mehr oder weniger dicht gestreut oder gereiht werden und sich dabei überschneiden, berühren oder einen Abstand bewahren. Gleiche Formen lassen sich zudem durch Spiegelung oder Drehung variieren und wieder neu kombinieren. Auf diese Weise entstehen bestimmte Rhythmen, d.h. spezifische Abfolgen von gleichen oder ähnlichen formalen Elementen (Punkten, Linien, Flächen, Strukturen, Hell-Dunkel- und Farbtönen), welche ein Werk locker oder gemessen, leichtfüssig oder schwerfällig wirken lassen.
Eine wichtige Bedeutung bei der Proportionierung von Bildflächen hat der goldene Schnitt, der als besonders harmonisch empfunden wird. Der goldene Schnitt ist eine stetige Teilung, wobei der kleinere Abschnitt (Minor) einer gegebenen Länge sich zum grösseren (Major) so verhält wie dieser zur gesamten Länge. In Zahlen ausgedrückt heisst dies: 1 : 1,618... oder ungefähr 5 : 8, 8 : 13, 13 : 21 usw.
4. Einstimmung
Während der Widder/Mars-Typ aus sich selbst heraus und für sich selbst arbeitet und sich dabei wenig um die Meinung anderer Leute kümmert, sind für den Waage/Venus-Typ Anregungen von aussen und diskursiver Austausch unerlässlich. Ein gemeinsamer Ausstellungsbesuch beispielsweise wäre eine gute Einstimmung auf die Arbeit, ebenso wie das Blättern in gepflegten Zeitschriften zu Mode, Design und Innenarchitektur. Dabei wird auch das Layout beachtet, denn erst die geeignete “Verpackung“ bringt den Inhalt wirkungsvoll zur Geltung.
Das Betrachten von Schaufenstern kann ebenfalls sehr anregend sein. Den Dekorateur*innen geht es genau gleich wie den Bildgestalter*innen darum, die einzelnen Elemente möglichst attraktiv zu arrangieren, um beim Publikum Wohlgefallen auszulösen!
5. Durchführung
Besonders geeignet für die Waage/Venus-Gestaltung ist die Technik der Collage. Sie erlaubt es, aus Vorhandenem (z.B. eingefärbten oder bedruckten Papieren oder auch Tapetenstücken) das auszuwählen, was am besten gefällt, und danach die einzelnen Teile so lange zu kombinieren, bis das Bild formal befriedigt. Dazu werden die einzelnen Farbtöne so arrangiert, dass ein angenehmer Wechsel in deren Intensität, Helligkeit und Temperatur entsteht. Die getroffene Anordnung sollte stets im Gleichgewicht sein, wie bei einem in die Fläche projizierten Mobile. Denn das sichtbare Formengefüge eines Bildes wird als Gleichnis für allgemein menschliches Erleben aufgefasst. Gehen z.B. ist ein Koordinieren von Ungleichgewichtszuständen: Um sich im Raum vorwärtsbewegen zu können, ohne hinzufallen, muss man sich immer wieder nach vorne fallen lassen und sich dann rechtzeitig wieder auffangen. Das Gleiche geschieht –oft ebenso intuitiv–, beim Verteilen optischer Gewichte innerhalb eines gegebenen Bildrahmens. Um das Gleichgewichtszentrum herum (die Bildmitte, den Schwerpunkt) wird die leere Fläche durch die weiteren Bildelemente ausbalanciert. Sobald der Hauptgegenstand aus der stabilen Mittelachse herausgerückt wird, entsteht Asymmetrie, ein Ungleichgewicht, das sodann durch eine oder mehrere Gegenkräfte ausgeglichen wird.
In welcher Technik auch immer: Stets wird versucht, zwischen den einzelnen Bildelementen harmonische Kontakte herzustellen. So können z.B. allzu harte Konturen bisweilen durch vermittelnde Sfumato-Passagen gemildert werden. Auf der inhaltlichen Ebene können etwa mehr oder weniger ausdrückliche Bildzitate den Aspekt der Bezugnahme und Verknüpfung wirkungsvoll unterstreichen.
Wenn Ornamente eingesetzt werden (d.h. Muster aus gleichmässig wiederkehrenden Linien oder Flächen), so verlangsamt sich der über die Bildfläche wandernde Blick. Die Abwechslung zu den ungemusterten Partien wird dann als besonders reizvoll empfunden, wenn sich Anregung und Entspannung elegant austariert präsentieren. Überhaupt erscheint hier das Dekorative als durchaus positive Qualität eines Bildes.
Bei gegenständlichen Motiven geht es nie um ein mechanisches Abzeichnen, sondern um das Ausspielen eines zeichnerischen Formenrepertoires, eines grafischen Formenschatzes, der auf das Sujet anwendet wird. Ohnehin gelangt der Waage/Venus-Typ viel eher zu befriedigenden Ergebnissen, wenn er möglichst frei aus der Vorstellung heraus gestaltet.
6. Überprüfung
Bei der Beurteilung der entstehenden Arbeit geht es nicht um ein schulmeisterliches “Richtig-Falsch-Denken”. Viel wichtiger ist eine gewisse Beschwingtheit, mit der die konträren Bildelemente auf anmutige Weise miteinander in Einklang gebracht werden. Um eine allzu unruhige Bildwirkung zu vermieden, werden bei Anwendung starker Farbkontraste die Helldunkel-Kontraste zurückgenommen oder umgekehrt.
7. Formverbindungen
Linien, Flächen und Farben werden in ihrer Gleichheit, Ähnlichkeit oder Verschiedenheit aufeinander bezogen. Dabei werden das Konstante und das Variable so dosiert, dass sich weder Langeweile noch Überreizung einstellen. Angestrebt wird ein dynamisches, labiles Gleichgewicht, bei welchem die Objekte der Darstellung durch freie, rhythmische Linien und Flächen mit gleichsam diplomatischem Geschick aufeinander abstimmt werden. Frei sind die Umrisslinien insofern, als sie nicht primär die Gegenstände in ihrer Eigenart präzise charakterisieren, sondern die Gemeinsamkeiten zwischen diesen Gegenständen und ihrer Umgebung betonen. Im Bildganzen kann dies z.B. durch Wiederholungen (visuelle “Echos” oder “Reime”) erreicht werden, oder auch durch Farbkonsonanzen.
8. Spannung
Es soll harmonisiert werden – doch ohne dass die Arbeit alle Ecken und Kanten verliert und dadurch langweilig wirkt. Unstimmigkeiten sollen vermieden werden – doch ohne durch vorschnelle Kompromisse unverbindlich zu werden. Ästhetische Ansprüche sollen hochgehalten werden – doch ohne dass das Bild gekünstelt oder geschmäcklerisch wirkt. Deshalb wird das Ungehobelte und Dissonante bisweilen als Ausnahme stehen gelassen, um dadurch die Regel der harmonischen Konsonanz umso überzeugender zu bestätigen. Denn allzu grosses Bemühen um Schönheit würde diese zerstören.
9. Vision
Überall dort, wo Einseitigkeit und Konflikte herrschen, soll vermittelt und ein Ausgleich gefunden werden. Im Bildgestaltungsprozess wandelt sich der Zeichen- oder Malgrund zur Projektionsfläche dieses Bestrebens. Das Waage/Venus-Bild soll ein Gleichnis für Integration darstellen, ein Modell der Synthese verschiedenster Polaritäten: Helles und Dunkles, Dynamisches und Statisches, Einfaches und Komplexes, Rationales und Irrationales. In diesem Sinne wird das Waage/Venus-Prinzip zum eigentlichen Kulturbringer. Doch Gestaltung soll keine Einbahn-Kommunikation sein, „sondern ein Hin und Her. Gestaltung muss demnach die sie wahrnehmenden Personen aktiv für Reaktionen, für Erwiderungen, zum Weiterdenken, zum Setzen eigener Zeichen gewinnen“. (Christoph Reichenau).
10. Vorbilder
Charles Lapicque (6.10.1898-1988) “malte vor allem Landschaften in hellen Farben und in einer zu Arabesken tendierenden Formauffassung, wobei er sich nie völlig vom Gegenständlichen löste” (Brockhaus Enzyklopädie, 1990). Lapicque kreierte auch immer wieder Paraphrasen zu Bildern alter Meister, so etwa zu Clouet, Tintoretto und Delacroix (Die Paraphrase ist eine variierende oder erweiternde Übertragung, ähnlich wie in der Musik die Variation über ein Thema).
Der Maler und Bildhauer Serge Brignoni (12.10.1903-2002) entfernte sich schrittweise „von der realistischen Sehweise der Wirklichkeit, ohne sich gänzlich von ihr zu lösen. Aspekte der Realität, wie Metamorphose, Keimung, männlich-weiblich, pflanzlich-erotisch, werden zu Hauptthemen. ...Sein künstlerisches Credo ...: Gleichgewicht der Komposition, Ausgeglichenheit von Farbe und Form.” (aus einem Buchprospekt des ABC-Verlags Zürich).
Auch Meret Oppenheim (6.10.1913-1985) arbeitete in Paris im Kreis der Surrealisten und wurde 1936 mit ihrem Pelztassen-Objekt berühmt. Sie versuchte dann, mit Modeschmuck-Entwürfen und Restaurierungen ihr Geld zu verdienen. Ab 1954 war sie in Bern als Objektkünstlerin und Malerin tätig und distanzierte sich zunehmend von den Surrealisten, “zumal sie in der Verknüpfung von Ratio und Sinnen nach Ganzheit suchte. In ihren Bildern und Gedichten kämpft sie mit leisem Humor gegen Sentimentalität.” (Schweizer Lexikon, 1993).
Weitere Künstler*innen, deren Werk einen deutlichen Bezug zum Waage/Venus-Archetypen zeigt, sind Suzanne Duchamp, Karl Hofer, Le Corbusier und Brice Marden.
11. Kontext
Das Ästhetische ist ein zentraler Waage/Venus-Bereich. Ästhetik (griechisch “Wahrnehmung”) ist die Wissenschaft, die sich mit dem “Schönen” in allen seinen Erscheinungsformen befasst, mit dem “Naturschönen” ebenso wie mit dem “Kunstschönen”. Betrachtungen über das Wesen des Schönen finden sich schon in der Antike, z.B. bei den Pythagoräern. Einheit, Vollkommenheit, Proportion und Klarheit sind die 4 Kriterien der Schönheit, welche Thomas von Aquin (13.Jh.) unterschied. Im 18.Jh. etabliert sich durch A.G. Baumgarten die Ästhetik innerhalb der Philosophie als selbständige Disziplin neben der Logik und der Ethik. Dabei werden Begriffe wie Geschmack, Gefühl und Empfindung in ihrer Subjektivität in die Lehre vom Schönen miteinbezogen.
12. Essenz
Im Waage/Venus-Gestaltungsprozess zeigt sich ein Weg, gegenpolige Fähigkeiten und Bedürfnisse in Einklang zu bringen: aktiv-behauptendes Durchsetzen des eigenen Formwillens gegenüber dem Wunsch nach allseitiger Rücksichtnahme. Gegensätze werden nicht mehr als einander ausschliessende oder sich bekämpfende Standpunkte gezeigt, sondern in ihrem sich komplementär ergänzenden Zusammenspiel.
Doch das Waage/Venus-Bild als stilisierte Darstellung von Formbeziehungen erfüllt erst dann seine Aufgabe ganz, wenn es auch von andern als wohltuend empfunden wird.
Kunst ist eine Mnemotechnik des Schönen.
Charles Baudelaire
Kunst ist eine Harmonie, die parallel zur Natur verläuft.
Paul Cézanne
Schönheit der Natur und Schönheit der menschgeschaffenen kulturellen Umgebung sind offensichtlich beide nötig, um den Menschen geistig und seelisch gesund zu erhalten.
Konrad Lorenz
Vielleicht ist Gestalten immer ein aggressiver und ein zärtlicher, in jedem Fall ein erotischer Akt.
Gert Selle
Die Skorpion/Pluto-Gestaltung
Qualitätskriterien
leidenschaftlich, intensiv, spannungsvoll, tiefschürfend, magisch, machtvoll, zwingend, erschütternd, erschreckend, tabulos, enthüllend, kompromisslos, schonungslos, provozierend, bedrohlich, aufwühlend, schockierend, subversiv
1. Motivation
Es sind tiefe emotionale Spannungen und Kräfte, die zum Gestalten drängen. Diese Kräfte stacheln auch den Leistungswillen an. Je heikler die Aufgabe, desto besser!
2. Material
Herausforderungen werden auch bei der Wahl des Arbeitsmaterials und der Arbeitstechnik gerne angenommen. Bei den langwierigen Prozeduren der Radierung z.B. erinnert der Umgang mit Nadeln, Sticheln, Abdeckfirnissen und ätzenden Säuren an geheimnisvolle Hexenküchen und obskure alchemistische Praktiken! Bevorzugt werden schwierige und risikoreiche Techniken und Prozesse mit intensiven Materialtransformationen.
3. Anregungen
Mehr als bei anderen Gestaltungstypen gibt es im Skorpion/Pluto-Bereich zwei ganz unterschiedliche Ausprägungen: eine defensive, welche stark auf Kontrolle setzt, und eine offensive, welche spontan mit der gewaltigen Energie umzugehen versteht. So werden die defensiven Gestalter*innen dazu neigen, nicht nur die Technik, sondern auch die Inhalte beherrschen zu wollen, indem sie sich alle nötigen Hintergrundinformationen beschaffen. Denn Angriffe könnten Gegenangriffe provozieren, und für diesen Fall wollen sie zum voraus gewappnet sein. Und da Bilder ins öffentliche Bewusstsein einwirken sollen –allenfalls subversiv– wollen sie die Gesetze der Vermittlung ebenso beherrschen lernen wie die verschlungenen Wege der menschlichen Psyche.
Die offensiven Gestalter*innen dagegen vertrauen voll darauf, dass sich alles Notwendige im
Moment des intensiven Prozesses von selber ergibt und sie sich im Kampf bewähren werden. Sagen und Märchen erzählen davon, wie gefährlich es ist, in das Reich Plutos (oder der Hydra, oder des Drachen, oder Alberichs) einzudringen. Doch wer den Gang wagt, kann die kostbarsten Schätze zurückbringen!
4. Einstimmung
Die Vorbereitung auf eine Arbeit, die erfahrungsgemäss “an die Substanz gehen“ wird, verlaufen ebenfalls sehr individuell. Dynamische, hochdramatische Musik kann die energetische Aufladung steigern, oder dies wird im Gegenteil bewirkt durch Abschottung gegen aussen,
Konzentration, Meditation. Doch ob nun von verzweifelter Hoffnung oder unerschütterlichem Glauben getrieben: Bildern wird eine magische Kraft zugesprochen, sei es als Staumauern, die dem emotionalen Druck standhalten; als raffinierte Kanalsysteme, welche unkontrollierte Überschwemmungen verhindern; oder aber als reine Abenteuer mit offenem Ausgang. Denn Sicherheit ist nur in der Unsicherheit zu finden, oder mit den Worten von Wolf Biermann: “Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um“!
5. Durchführung
Gezeichnet oder gemalt wird mit vollem Engagement, in schonungslosen, eruptiven Entladungen – oder aber mit jener extremen Langsamkeit, welche durch die angestrebte Perfektion gefordert wird. Auf alle Fälle heisst Gestalten hier unerbittlich bohren und sezieren, bis sich jene suggestive Wirkung einstellt, die in Bann zieht – sei es durch den Ausdruck totaler Askese oder totaler Eruption. Ob nun eher triebhaft oder im Gegenteil mit scharfem Kalkül vorgegangen wird: Es kommt nie auf korrekte oder angenehm sinnliche Wiedergabe an, sondern auf die Schlagkraft und Tiefgründigkeit des Dargestellten – wenn nötig auch mit Hilfe des Brutalen und des Hässlichen.
Eine höchst spannende und beunruhigende (weil unstabile) Bildwirkung wird erzielt, wenn eine gleichwertige Beziehung von Figur (Positivform) und Grund (Negativform) zu sehen ist (so wie in der bekannten Darstellung des dänischen Psychologen Rubin, in welcher man abwechslungsweise eine weisse Vase vor einem schwarzen Grund oder zwei schwarze, einander zugewandte Gesichtsprofile vor einem weissen Grund erkennt). Da man gezeichnete oder gemalte Werkspuren zunächst tendenziell als Positivformen wahrnimmt, wird man sich beim Malen vor allem mit den Negativformen (dem „Hintergründigen“!) beschäftigen.
Spannung ergibt sich auch aus extrem kontrastreichen Formen, aus harten und präzisen Konturen, welche unter die Haut gehen, oder aus dissonanten Farben, welche eine starke Irritation erzeugen. Es geht bei der Skorpion/Pluto-Gestaltung also nie um Sachlichkeit und Objektivität, sondern um grösstmögliche Brisanz. Die Strategien reichen dabei von raffiniertester Verschlüsselung bis zu schonungsloser Offenlegung. Dies nicht selten um den Preis von Krisen, Verlusten und Niederlagen während des ganzen Arbeitsprozesses.
6. Überprüfung
Nun wird noch einmal alles daran gesetzt, die grösstmögliche Schärfe des Bildes zu erreichen. Möglicherweise werden Opfer verlangt. Scheinbar Gelungenes muss aufgegeben werden, um immer wieder neu und kraftvoller zu beginnen. Denn Empörung –auch gegenüber einer allfälligen Lauheit der eigenen Arbeit– ist Vorbedingung für jede Neuschöpfung. Zweifel oder gar Verzweiflung begleiten nicht selten den unter hohem innerem Druck geleisteten Prozess. Aber das Wegschmeissen des unbefriedigenden Bildes käme einer nicht zu Ende gelebten Erfahrung gleich. Es gilt, durchzuhalten, neue Breschen zu schlagen. Vielleicht muss das bisher Erreichte wieder verunstaltet, saubere Stellen wieder beschmutzt werden, damit durch die Neugestaltung das Wesentliche umso überzeugender erscheint.
Skorpion/Pluto-Bilder sollen nicht bloss sensible Seismographen sein, sondern gleichsam das Erdbeben selbst! Ein Bild ist erst dann vollendet, wenn man davor erschrickt! Es kann das Erschrecken darüber sein, dass Geliebtes oder scheinbar Vertrautes plötzlich seine unheimliche Schattenseite zeigt; oder das Erschrecken über die rücksichtslose Zerstörung des Altehrwürdigen, welches als unantastbar galt; oder das Erschrecken über die Härte und Klarheit, mit der die Dinge in ihrer Nacktheit erscheinen.
7. Formverbindungen
Während bei der Waage/Venus-Gestaltung die einzelnen Bildelemente in ihrem Zusammenspiel noch sich selber bleiben dürfen, müssen sie sich im Skorpion/Pluto-Bild grundlegend transformieren. Dies wird z.B. durch die schon erwähnte Verquickung von Form und Grund erreicht. Der defensive Typ wird in einer bildnerisch klar definierten Form Halt suchen. Für die offensiven Gestalter*innen gelten die gleichen Charakterisierungen wie für die übrigen Wasser- und die Feuertypen: Intuition und Spontaneität bestimmen das Zusammenspiel der
Bildteile.
8. Spannung
Bei der Arbeit wird immer die gesamte Bildfläche miteinbezogen. Der ganze Malgrund muss gleichsam mit Starkstrom aufgeladen werden, “... denn da ist keine Stelle,/ die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern” (Rilke). Auch die Betrachter*innen sollen durch das Bild “in Mitleidenschaft gezogen” werden!
Eine besonders magische Wirkung kann durch die gezielte Platzierung des Darstellungsgegenstandes in der alles beherrschenden Bildmitte erzielt werden. Er erscheint dadurch unausweichlich. Wird das Hauptmotiv hingegen am Bildrand angeschnitten oder als dunkle Silhouette im Gegenlicht gezeigt, so entstehen weitere Wirkungen, die der Skorpion/Pluto-Atmosphäre entsprechen.
Möglicherweise muss zwischendurch ein Stück Malgrund angesetzt werden, wenn der “Kampfplatz” zu klein geworden ist; oder Teile des Bildes werden abgeschnitten, damit es an
Dichte und Sprengkraft gewinnt. Überhaupt sind radikale Veränderungen immer wieder nötig.
Der ganze Prozess führt durch vielfältige Metamorphosen, innerhalb eines jeden einzelnen Bildes oder von Bild zu Bild. Aufbauen, kompromisslos zerstören, wieder neu aufbauen – diese Phasen gilt es mit allen Konsequenzen durchzustehen.
Spannung kann schliesslich auch durch die bewusst eingesetzte Diskrepanz zwischen Form und Inhalt erzeugt werden – als Ausdrucksmittel der Ironie oder des Zynismus.
9. Vision
Wenn Kunst die Kultur des Fragens ist, so ist Skorpion/Pluto-Kunst die Kultur des konsequenten, provokativen In-Frage-Stellens. Sie erfährt dabei ihre Spannkraft aus dem Widerspruch, der ihr erwächst. Dazu braucht es den Mut zum Unbequemen, zum Dunklen und Amoralischen, das provoziert oder gar schockiert, um näher an die existentiellen Wahrheiten zu gelangen. Es sollen Bilder entstehen, auf welche die Menschen die ganze Intensität ihrer Gefühle beziehen können. Das Zwiespältige, Abgründige und Extreme sichtbar und dadurch bewusst machen; Wunden offenlegen, damit sie geheilt werden können; “das Absurde zum Leben bringen” (Camus): Dies sind die Aufgaben der Skorpion/Pluto-Gestaltung. Aus ihr sollen die regenerierenden Kräfte kommen, die eine Neugeburt ermöglichen.
10. Vorbilder
Der berühmteste Skorpion-Maler ist sicher Pablo Picasso (25.10.1881-1972). „Bei ihm beeindruckt die Kühnheit und ungewöhnlich reiche und impulsive Schöpferkraft, im ständigen Stirb und Werde, in stetem Wandel von Gestaltungsmitteln und Formen. Überarbeiten, zerstören und wieder überarbeiten, dadurch wandelt sich das Bild, verdichtet sich, wird wesentlicher. Das ist die Absicht des Skorpions” (Marianne Calderara). Immer wieder prangerte Picasso in seinen Bildern die an Menschen begangenen Grausamkeiten an, und die Themen der Macht und der Ohnmacht, vor allem auch in der Beziehung der Geschlechter, sind allgegenwärtig. Die Amerikanerin Georgia O’Keeffe (15.11.1887-1986) ist durch ihre Landschaften, nächtlichen Stadtansichten, Tierschädel und -knochen, aber vor allem durch ihre Blumenmotive berühmt geworden. Diese sorgten durch die fast unheimliche Vergrösserung der Details – einzelne Blütenkelche mit Staubfäden und Stempeln – für Aufsehen, aber auch durch ihre manchmal aggressive Farbigkeit, die Härte der Konturen und die sexuelle Sinnbildlichkeit.
Francis Bacon (28.10.1909-1995) konzentrierte sich auf ”die Einzelfigur in absoluter Isolation oder zwei im Kampf oder der Liebe miteinander verstrickte Figuren. Bezeichnend für Bacons Porträts ist der begrenzte, klinische Raum, in dem die isolierte Figur gefangen ist. ... Der Gegenstand verweigert sich der exakten Definition und wirkt doch magnetisierend. Bacons Aktualität beruht auf der Tatsache, dass seine Kreaturen, die zweifellos aus Fleisch und Blut sind und zur Identifikation zwingen, überzeugende und eindringliche Verkörperungen psychischer Angst sind. Bacon fand eine neue Bildsprache, die das Wissen um die Schrecken des 20. Jahrhunderts – die Konzentrationslager, Gaskammern, andauernden Folterungen in der ganzen Welt – ebenso zum Ausdruck bringt wie die individuellen Phobien, die von der Psychoanalyse aufgedeckt und von einer kafkaesken Literatur beschrieben werden.” (David Piper). Helmut Federle (31.10.1944) betreibt eine Farbfeldmalerei, die streng konstruktiv anmutet, aber oft malerisch sehr sensibel und frei ausgeführt ist. Einige seiner geometrischen Figurationen erinnern provokativ an Hakenkreuz- und SS-Symbole, sind aber ebenso Kombinationen seiner eigenen Initialen. Das Unsichere, Irritierende –weil Widersprüchliche– ist paradoxerweise der tragende Grund seiner Kunst.
Die Werke von René Magritte, Roberto Matta und Horst Janssen gehören ebenfalls in diesen Bereich.
11. Kontext
Skorpion/Pluto-Bilder sind niemals harmlos. Tabu-Themen wie Tod, Sexualität, Macht und Ohnmacht tauchen besonders häufig auf. Diese Werke strahlen häufig etwas Magisches aus.
Unter Magie verstehen wir eine Zauberhandlung, welche mittels geheimer Kräfte scheinbar Unmögliches möglich macht; eine raffinierte Praktik, mit der der Mensch seinen eigenen Willen auf die Umwelt überträgt. Zur magischen Handlung im engeren Sinn gehören neben der ritualisierten Sprache, den Gebärden und den Klängen sehr oft auch bildhafte Formen. In der Bildgestaltung sind es, wie schon beschrieben, spezielle Farb- oder Helldunkelkontraste, welche aussergewöhnlich intensiv oder beunruhigend sein können. Solche Bildwirkungen finden sich oft in den Werken des Symbolismus und des Surrealismus. Dort sind es auch häufig geheimnisvolle oder unheimliche Bildinhalte, die zu fesseln vermögen. Im sogenannten ”magischen Realismus” entsteht die besondere Wirkung durch die Reduktion auf das Wesentliche der statischen Gegenstände oder die äusserste Akribie, mit der die Wirklichkeit überscharf wiedergegeben wird.
12. Essenz
Nach Charles Baudelaire verwandelt sich das Schreckliche und das Schmerzliche, durch Form und Rhythmus kunstvoll ausgedrückt, in Schönheit und Freude, welche den Geist beruhigen. Künstlerische Gestaltung ist deshalb ein machtvolles Mittel zur Überwindung und zur Transformation. Der Kern eines psychischen Heilungsprozesses liegt im Zulassen und Wiedererleben von starken Gefühlen und Empfindungen. Skorpion/ Pluto-Bilder stellen den Kontakt her zu den verborgenen Kräften, die allen Menschen innewohnen.
Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.
Theodor W. Adorno
Was heute so schrecklich ist: niemand sagt über irgend jemanden etwas Böses.
Pablo Picasso
Pablo, du hast das Schöne getötet, danke.
Telegramm von Dali an Picasso
Die Lust zur Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.
Bakunin
Damit etwas kommt muss etwas gehen
die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht
die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken
Heiner Müller (“Mauser”)
Die Schütze/Jupiter-Gestaltung
Qualitätskriterien
idealistisch, optimistisch, enthusiastisch, visionär, begeisternd, sinnstiftend, sinnerfüllt, horizont- erweiternd, schwungvoll, expansiv, inspirierend, erhebend, grossartig, hymnisch, pathetisch
1. Motivation
Am Anfang der Schütze/Jupiter-Gestaltung steht die Intuition, dass Formen und Farben etwas offenbaren können. Malerei lockt als Entdeckungsreise, als geistiges Abenteuer, als Visionssuche.
2. Material
Hier drängen sich grossflächige Malgründe auf, sowie Stifte, Kreiden und Farben, mit denen sich unkompliziert und schnell arbeiten lässt. Die Druckgrafik verhilft dem Schaffen zu grösserer Verbreitung. Dabei vermittelt die Lithographie die Spontaneität des Ausdrucks am direktesten. Einige südamerikanische Schütze/Jupiter-Künstler haben die Wandmalerei in öffentlichen
Räumen bevorzugt, da sie durch ihre Dimensionen ebenfalls viele Menschen erreichen kann. Ganz besonders geeignet ist hier die Glasmalerei, da sie durch die Leuchtkraft ihrer Farben die Malerei mit Pigmenten bei weitem übertrifft.
3. Anregungen
Kandinsky, Klee und andere haben in ihrem Werk, in ihrem Unterricht und in ihren Schriften den Eigenausdruck der bildnerischen Mittel betont. Linien, Flecken oder Flächen an sich können gleiten, kreisen, wachsen, schrumpfen, atmen, zurückweichen oder sich nach vorne drängen. Und dies ganz unabhängig davon, ob irgendwelche gegenständlich interpretierbaren Situationen dargestellt sind, welche diese Bewegungen nahelegen. “Die Berührung des spitzen Winkels eines Dreiecks mit einem Kreis hat in der Tat nicht weniger Wirkung als die des Fingers Gottes mit dem Finger Adams bei Michelangelo.” (Aniela Jaffé). Auch das Licht hat eine ganz besondere Bedeutung: Es steht für das Göttliche, das Heilige, das Wahre, wogegen die Dunkelheit oft das Unbekannte ausdrückt, die Gefahr und die Angst oder die “Nachtseite der Seele”.
So liefert besonders die Welt der Symbole reichlich Inspirationen. Das Symbol als sinnlich wahrnehmbares Zeichen, das für etwas nicht Wahrnehmbares steht. Ein Sinnbild also, das über sich hinaus auf einen höheren, abstrakten Bereich verweist, auf etwas Gedachtes oder Geglaubtes. Das Symbol verbindet auf diese Weise die Innenwelt mit der Aussenwelt. “Wie die Symbolgeschichte zeigt, kann alles eine symbolische Bedeutung annehmen: das Reich der Natur mit Stein, Pflanze, Tier und Mensch, mit Licht und Gestirnen, Berg und Tal sowie den vier Elementen; vom Menschen geschaffene Dinge, wie Gefäss, Schiff und Tisch, Turm und Haus, Ring und Schwert, und schliesslich auch geometrische Formen, wie Dreieck, Quadrat, Kreis und Punkt, sowie ihre numerischen Äquivalente, die Zahlen.” (Aniela Jaffé).
Doch dieses Wissen soll nicht belehren, sondern inspirieren. Aus dieser Inspiration erwachsen die Vorstellung eines möglichen Bildes und jene Begeisterung und freudige Erwartung, welche unmittelbar zur Gestaltung drängen.
4. Einstimmung
”Feuer-Typen” vertrauen letztlich ihrer inneren Eingebung und darauf, dass sich das Wesentliche im Prozess der Gestaltung offenbaren wird und so das innere, noch verborgene Wissen zum Vorschein kommt. Sie brauchen deshalb viel Freiraum. Sie finden diesen möglicherweise in politischen oder religiösen Diskussionen, in der Kunstbetrachtung, beim Musikhören, oder in einer dynamischen Meditation.
5. Durchführung
Die Malfläche wird nun zum Aktionsfeld dieses kreativen Schwungs. In expansiven Bewegungen werden Farben und Formen zelebriert, immer auf der “Suche nach dem allein wesentlichen Bild der Schöpfung, das anstelle des fertigen Naturbildes tritt.” (Paul Klee). Gezeichnet und gemalt werden “Formeln ... für Mensch, Tier, Pflanze, Gestein und für die Elemente, für alle kreisenden Kräfte zugleich.” (Paul Klee).
Dabei hat die Linie nun nicht mehr nur als “gebundene Linie” die Funktion des Abbildens von Gegenständlichem, sondern sie kann sich darüber hinaus von dieser dienenden Aufgabe befreien und einzig durch den Eigenausdruck ihrer Qualitäten (Länge, Dicke, Richtung, Charakter) wirken. Das gleiche gilt für Flächen und Farben.
Bewegung wird z.B. mit diagonalen Richtungen, oder mit Wellenlinien als Kontrast zur Geradlinigkeit der Bildränder, oder durch die bewusste Lichtführung suggeriert. Wiederholungen von formalen Elementen verstärken die dynamische Wirkung. Dynamik kann aber auch durch Abstufungen der Grösse, der Neigung, der Helligkeit usw. erreicht werden, sowie durch einzelne aufeinander bezogene Bildelemente, welche das Auge zu einer ”optischen Linie” zusammensetzt.
In grosszügigem Duktus werden neue Räume erschlossen, in kühnen Bogenbewegungen, befreit von jeder Schwerkraft, ohne Angst vor barocker Fülle und Feierlichkeit!
In weiteren Bildern entstehen Variationen des Themas, oder es werden einzelne Bilder in einen progressiven Sinnzusammenhang gestellt.
6. Überprüfung
Die Arbeitsweise des Schütze/Jupiter-Typs ist nie defizit-, sondern immer ressourcenorientiert. Er lässt sich nicht lähmen durch all das, was er noch nicht kann und weiss, sondern er vertraut voll auf das, was bereits zur Verfügung steht. Der Fokus im Bild wird dabei auf eine einzige Sache gerichtet. Immer geht es um die gezielte Optimierung eines Werkzustandes, um die weitere Annäherung an ein vorgestelltes Ideal-Bild. Das Absolute wird dabei nicht herbeigezwungen, sondern der künstlerische Weg als Lehrpfad akzeptiert, der immer weiter führen wird. Denn “Gestaltung geht davon aus, dass wir eine Zukunft haben” (Christoph Reichenau) - und zwar eine bessere! Mit dem Setzen eines bedeutungsvollen Bildtitels wird diese Botschaft noch weiter verdeutlicht.
7. Formverbindungen
Die einzelnen Teile des Schütze/Jupiter-Bildes unterstreichen in ihrer Aussage die Botschaft des Ganzen. Sie sind durch die klare Gesamtvision und eine eindeutige Bildbewegung miteinander verbunden. Die Fülle und Vielfalt der Bildelemente schliesst sich so auch formal zu einer einheitlichen Gestalt zusammen, ohne dass eine starre Fluchtpunktperspektive diese Aufgabe übernehmen müsste.
Möglicherweise sind es die Urformen Quadrat und Kreis –Symbole für Materie, irdisches Hier und Jetzt, respektive für Zeit, Ewigkeit, Gott–, welche die Ordnungsfunktion auf der Bildfläche übernehmen. Jedenfalls soll die Bildkomposition immer dazu dienen, visuelle Zugangswege zum Hauptmotiv zu schaffen, um die Betrachter*innen zielsicher zu leiten.
8. Spannung
Spannung entsteht hier ganz besonders durch die Diskrepanz zwischen einem durchschnittlichen Alltagsbewusstsein und den hohen Idealen, die zu äussern die meisten Menschen nicht den Mut haben und als allzu pathetisch oder als Utopie ablehnen würden. Doch im Bild vermag der Schütze/Jupiter-Typ seine kühnsten Träume zu verwirklichen, und er beflügelt sich immer wieder selber durch die Freude an seiner Arbeit.
Durch den Schwung der Formen und die Leuchtkraft der Farben wird jene ”geträumte Expression” (W. Döbereiner) erreicht, welche die Menschen zu begeistern vermag.
9. Vision
Schütze/Jupiter-Bilder sollen Energieträger sein, die Geistiges verfügbar machen. Dabei kann ganz selbstverständlich auch aus dem Fundus anderer Kulturkreise geschöpft werden. Mit diesen Bildern werden Formen und Inhalte in die Welt gesetzt, die der eigenen Erfahrung weit voraus sind. Sie sind Projekte im eigentlichen Sinne des Wortes, Leitsterne, die vorausleuchten. Künstler erscheinen unter diesem Aspekt gleichsam als “säkularisierte Theologen”!
10. Vorbilder
In den Bildern des norwegischen Expressionisten Edvard Munch (12.12.1863-1944) verbinden sich die Skorpion- mit den Schütze-Merkmalen. Die Bildthemen sind tiefgründig, manchmal quälend, die formale Umsetzung wirkt aber oft entspannt und befreit. Eines seiner Hauptwerke, den “Lebensfries”, hat Munch wie eine musikalische Komposition in die Sätze “Keimen der Liebe”, “Blühen und Vergehen der Liebe”, “Lebensangst” und “Tod” aufgeteilt. Kaltnadelradierung, Lithographie und Holzschnitt dienten ihm zur Erkundung neuer Ausdrucksbereiche, aber auch dazu, seine Werke einem möglichst grossen Kreis bekannt machen zu können. Henri de Toulouse-Lautrec (24.11.1864-1901) “arbeitete mit seinem plakativen Flächen- und Linienstil und der klaren Umrissbetonung die wesentliche Form und den Sinngehalt des jeweiligen Sujets heraus. Seine Motive sind das Leben am Pariser Montmartre, der Zirkus, das Kabarett, die Rennplätze – alles Orte der Bewegung.” (Marianne Calderara). Toulouse-Lautrec wandte sich mit grosser Energie der Lithographie zu. In dieser Drucktechnik schuf er neuartige Plakate und freie Arbeiten von erstaunlicher Spontaneität.
Der Russe Wassily Kandinsky (4.12.1866-1944) stiess 1910 in München als einer der ersten zur abstrakten Malerei vor. “Für Kandinsky ist die Welt ‘ein Kosmos der geistig wirkenden Wesen’, er empfand seine Bilder als geistigen Ausdruck des Kosmos, als eine Sphärenmusik der Farben und Formen. ‘Die Form, wenn sie auch ganz abstrakt ist und einer geometrischen gleicht, hat einen inneren Klang, ist ein geistiges Wesen mit Eigenschaften, die mit dieser Form identisch sind’.” (Aniela Jaffé). Kandinsky erweist sich nicht nur in seiner Malerei, sondern auch in seinem wegweisenden Buch “Über das Geistige in der Kunst” als typischer Vertreter des Schütze/ Jupiter-Prinzips.
Arnold Kübler schrieb zum Werdegang von Paul Klee (18.12.1879-1940): “Was für ein Tatvorgang, Geistesgang, Umkehrgang vom anfänglich gebundenen Ähnlichkeitsstrich zum freien, zum Einfallsstrich, fort zu den neuen Möglichkeiten des Gestaltenspiels, zu denen der eingehende Umgang mit den Zeichnungsmitteln ihn aufrief”. Unter den vielen Zeichen, welche Klee in seinen Bildern verwendete, taucht immer wieder der Pfeil auf als Symbol für Richtung, Bewegung, Dynamik – ein Symbol, das auch für das Tierkreiszeichen Schütze steht. Ein Beispiel für das soziale Engagement der Malerei ist der Mexikanische Expressionismus eines Diego Rivera (8.12.1886 - 1957) oder José Clemente Orozco (23.11.1883 - 1949). In monumentalen Wandbildern haben sie mit pathetischer Geste die bewegte Geschichte ihres Landes dargestellt. Maler wie Maurice Denis, Jean Bazaine oder Alfred Manessier haben sich intensiv mit religiösen Inhalten auseinandergesetzt. Für Jules Bissier und Mark Tobey war die Begegnung mit den östlichen Religionen und Kunstformen (insbesondere der Kalligraphie) von entscheidender Bedeutung. Der abstrakte Expressionist Clyfford Still gehört ebenfalls in den Bereich der Schütze/Jupiter-Künstler.
11. Kontext
Hier geht es um Kunst, die nicht nur dem ästhetischen, sondern auch dem ethischen Empfinden gerecht wird. Soziale und religiöse Themen sind deshalb zentral. Schütze/Jupiter-Bilder sind nicht mehr nur Statussymbole, sie künden vielmehr von einer Wirklichkeit, die über die Grenzen unserer Person hinausgeht, gesellschaftliche und geistesgeschichtliche Entwicklungen erfasst, “denn die Menschen haben schon immer ein Muster des Wachstums und der Ordnung gebraucht, um ihr kollektives Leben zu lenken und ihre individuellen Erfahrungen mit Bedeutung zu füllen.” (Stephen Arroyo).
Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang das Studium der Ikonographie. Sie beschreibt und klassifiziert den religiösen, mythologischen, symbolischen oder allegorischen Inhalt von Bildwerken oder ihrer Elemente.
12. Essenz
Der Dynamik der bildnerischen Ausdrucksmittel wohnt die Kraft inne, Gedanken zu Visionen zu formen. Das Bild wird zum Glaubensbekenntnis – nicht als unumstössliches Dogma, sondern als Sinnbild, welches bei der geistigen Orientierung hilft. Es offenbart einen inneren Zusammenhang, welcher über die momentane Begrenztheit der irdischen Existenz hinausträgt in ein Reich unbegrenzter Möglichkeiten.
Kunst aber ist Höhenflug in den Himmel der Inspiration.
Boris Arvatov
Jedesmal, wenn im Schaffen ein Typ dem Stadium der Genesis entwächst, und ich quasi am Ziel anlange, verliert sich die Intensität sehr rasch, und ich muss neue Wege suchen. Productiv ist eben der Weg das Wesentliche, steht das Werden über dem Sein.
Paul Klee
Bilder machen heisst der Welt gewahr werden, nicht die Fertigung irgend eines Abbildes. Das war nicht anders in der Frühzeit des Menschen, wo die Hinwendung zu den Dämonen des Todes und den Göttern des Lebens sich zu Formen und Gestalten materialisierte: zu Wunsch-, Hoffnungs-, Wahrheitsbildern, die man später Kunst zu nennen sich angewöhnt. Das ist nicht anders in den Visionen der Kunst unserer Zeit, da der Mensch die Tore zu einem Raum unendlicher Himmel öffnet, zu unbetretenen und ungeschauten Welten.
Klappentext zu Oto Bihalji - Merin(“Bild und Imagination”)
Die Steinbock/Saturn-Gestaltung
Qualitätskriterien
strukturiert, gesetzmässig, klar, dicht, diszipliniert, konsequent, abstrahierend, wesentlich, traditionsbewusst, würdig, vornehm distanziert, ernst, streng, asketisch, karg
1. Motivation
Nach der Verwurzelung in der sinnlich erfassbaren Welt (Stier/Venus) und der Erfassung dieser Welt mit analytischem und praktischem Verstand (Jungfrau/Merkur) geht es nun in der Steinbock/Saturn-Gestaltung darum, diese Erfahrungen zu einer endgültigen Form zu verdichten, welche auch in der Öffentlichkeit zum verbindlichen Massstab werden soll.
2. Material
Zur konkreten Umsetzung stehen alle traditionellen Techniken zur Verfügung, von der Ölmalerei bis hin zur dauerhaften, aber schwierigen Freskotechnik. In der Vorbereitungsphase sind Grafit- oder Kohlestifte von Nutzen. Die Grösse des Bildträgers richtet sich nach dem Bildinhalt, aber auch nach der gewünschten und möglichen Distanz der Betrachtung. Das Niedliche eines allzu kleinen Formates wird ebenso vermieden wie das Aufgeblasene einer überdimensionierten Fläche.
3. Anregungen
Grundlagen für die Arbeit des Steinbock/Saturn-Typs sind handwerklich-technische Kompetenz, aber auch solides Wissen um die historische Entwicklung der bildenden Künste und ihre Wirkungsgeschichte. So können beispielsweise Malereien an besondere Zeiten, Orte oder Persönlichkeiten zu erinnern oder prägende Ereignisse dokumentieren, so wie Denkmäler dies tun. Solche Werke, welche kurzlebige Moden überdauern, sind hier von speziellem Interesse. Ganz besonders jene, die durch die Ökonomie der Mittel und die Strenge der Komposition „klassisch“ genannt werden können.
Das Kopieren von Meisterwerken zu Studienzwecken kann zu wesentlichen Erkenntnissen führen, wenn dieses nicht nur als äusserlicher oder rein technischer Vorgang betrieben wird, sondern den inneren Aufbau der Vorbilder klar herausarbeitet. Auch in den Formen der Natur lassen sich Strukturgesetze studieren, um daraus Gesetze der Komposition abzuleiten.
4. Einstimmung
Heutzutage erfordert das alltägliche Leben ein immer schnelleres Sehen. So haben es die meisten Menschen verlernt, beim Besuch einer Ausstellung ein Bild etwas länger zu betrachten, ohne sich dabei zu langweilen. Doch Langsamkeit –zugunsten der Gründlichkeit– ist hier unabdingbar, bei der Betrachtung ebenso wie bei der gestalterischen Arbeit. Erst die Drosselung des Tempos ermöglicht die angestrebte Vertiefung und Verdichtung. Voraussetzung für ein konzentriertes Arbeiten ist deshalb die Ruhe und die Möglichkeit, sich zurückzuziehen und abzuschirmen gegen Störungen von aussen.
Vorausschauend wird nun der Arbeitsprozess strukturiert. In der Regel braucht es eine ganze Reihe vorbereitender Skizzen, bis sich eine klare Gestaltungsabsicht herauskristallisiert. Dabei wird schon entschieden, ob ein Quer- oder Hochformat angemessen sei, und wie die Höhe der Bildfläche zu deren Breite proportioniert sein soll.
5. Durchführung
Nach der Festlegung der Proportion des Bildes sind nun dessen richtige Grösse und die materielle Beschaffenheit des Malgrundes zu bestimmen, sowie die passenden Malmittel und Werkzeuge auszuwählen.
In vielen Bildern ballen sich die Elemente um ein Zentrum –manchmal auch um mehrere Zentren– und klingen dann gegen den Rand hin aus. Hier jedoch bezieht sich die Organisation der Formen auf die gegebenen Bildgrenzen, wodurch eine feste, geschlossene Gesamtwirkung erreicht wird. Dabei hilft ein geometrischer Grundraster, welcher die Bildfläche rhythmisch strukturiert. Dieser ist am Ende des Malprozesses nicht mehr sichtbar, aber doch noch spürbar durch die optischen Akzente, welche auf diesen “Taktstrichen” liegen. Neben dem goldenen Schnitt ist die Quadratierung eine gängige Aufteilungsmethode, d.h. das Abtragen der kürzeren Seite auf die längere, wodurch ein Quadrat und ein –meistens– kleineres Rechteck entstehen. Sowohl beim Quadratieren wie beim goldenen Schnitt lassen sich die entstehenden Flächen nach den gleichen Regeln weiter unterteilen. Dadurch wird jener Teil im Menschen angesprochen und befriedigt, welchen Thomas Ring den “geometrischen Instinkt” nannte. Auf dieser Grundanlage basieren nun alle weiteren Schritte, angefangen bei einer summarischen Positionierung der wichtigsten Elemente mit Kohle oder Kreide und einer groben Untermalung.
Bei gegenständlichen Bildern liegt die Konzentration beim Malen von Anfang an mindestens ebenso sehr auf dem entstehenden Bild als auf dem abzubildenden Objekt. Immer wieder wird der Blick auf das Ganze gerichtet, ohne einzelne Details allein voranzutreiben. Vielleicht kann auf diese auch ganz verzichtet werden, denn oft ist eine klare Zusammenfassung wirkungsvoller als eine detailgetreue Wiedergabe. Die Formen werden von innen her aufgebaut, mit breiten Pinseln oder grossen Spachteln. Am Schluss gilt: Je mehr Elemente ein Bild enthält, umso mehr müssen diese sich gegenseitig Konzessionen machen, damit Einheit und Übersichtlichkeit gewährleistet bleiben.
6. Überprüfung
Vieles ist durch Erfahrung gesichert und verfügbar. Doch darf die Hand niemals schneller sein als der ordnende Verstand. Die Bilder werden daher immer wieder von weitem betrachtet, um einen Überblick zu gewinnen, oder sie werden sogar einige Tage oder Wochen beiseite gestellt.
Ihre Qualitäten und Mängel erweisen sich durch den zeitlichen Abstand viel klarer.
Während der Schütze-Typ die Stagnation fürchtet, fürchtet der Steinbock-Typ den Verlust des mühsam Erreichten und scheinbar Abgesicherten. Doch sobald die Bilder beginnen, steif und leblos zu wirken ist es Zeit, wieder das Unbekannte und Zufällige zuzulassen, das sich bei jeder Arbeit spontan einstellen kann. Abgrenzung und Offenheit gegenüber dem Neuen müssen angemessen austariert werden – immer im Bewusstsein, dass alles möglich, aber nicht immer alles sinnvoll ist! Das Ausschlagen von Möglichkeiten ist genauso wichtig wie das Nutzen von Möglichkeiten.
Grundsätzlich geht es hier um das konsequente Erarbeiten der gültigen Form. “Denn mit der mangelnden Durchformung geht immer auch Erfahrung verloren; ihr Fehlen beweist, dass jemand eine zu flüchtige Erfahrung gemacht hat, dass er entweder ... die Mühe gescheut oder sich auch zuviel oder falsche Mühe gegeben hat. Ihr steht die Ökonomie der
angestrengten, versammelten Sinne ... und die Lakonie der gefassten Form gegenüber. Beiden fehlt das Moment der Geschwätzigkeit und alles bloss Dekorative.“ (Gert Selle).
7. Formverbindungen
Der Zusammenhalt der Einzelteile innerhalb des vorgegebenen Rahmens wird durch die konsequente Gliederung der Komposition erreicht. Neben den schon erwähnten Einteilungen der Grundfläche ist das Aufbaumuster entscheidend: horizontal, vertikal, kreuzförmig, dreieckig, diagonal, doppelt diagonal oder kreisförmig. Die Bildelemente können symmetrisch oder asymmetrisch angeordnet werden, als Rand- oder als Zentralkomposition. Ziel der jeweiligen Organisationsstruktur ist die formale Klarheit der Darstellung und dadurch ihre Prägnanz, ihre Einprägsamkeit. Es geht um das Konkretisieren von bildnerischen Beziehungen in einem stabilen Gleichgewicht. Erreicht wird dies, wie gesagt, durch “eine gewisse Übereinstimmung und ein Zusammenklang der Teile zu einem Ganzen gemäss einer bestimmten Zahl, Proportion und Ordnung.” (Leon Battista Alberti).
8. Spannung
In Bezug auf Formen, Helldunkel- oder Farbwerte geht es im Verlauf des Malprozesses immer wieder um ein Verstärken, ein Abschwächen oder ein Weglassen. Es wird so lange gearbeitet, bis nichts mehr dazugefügt und nichts mehr weggenommen werden kann. Das Abstrahieren führt möglicherweise dazu, dass Einzelteile manchmal unvollständig bleiben zugunsten des Ganzen. Dies ergibt einen klaren, aber gewollten Widerspruch zu gängigen Erwartungen an eine detailgetreue Wiedergabe der Realität.
9. Vision
Das Bild ist geformte und verdichtete Lebenserfahrung – individuelle und allgemeine. Durch ihre Einfachheit und Strenge sollen sich diese Bilder im Bewusstsein verankern und dem Vergänglichen unseres Lebens etwas Dauerhaftes entgegenstellen. Die Darstellungsgegenstände, aber auch die innere Haltung zum gesamten Schaffensprozess, welche im Werk zum Ausdruck kommen, sollen gewürdigt und verewigt werden.
10. Vorbilder
Paul Cézanne (19.1.1839-1906). “Durch die klassisch-strenge Kompositionsweise Poussins angeregt, gelangte Cézanne zu seinem konstruktiven Bildaufbau, in dem die Volumen der Gegenstände klar definiert und auf ihre Grundformen zurückgeführt werden.” (“Lexikon der Malerei”, Unipart). Cézanne verstand Kunst als abstrahierte, konzentrierte Natur. Er arbeitete mit Pinselstrichen, welche durch ihre rhythmische Anordnung der Bildfläche eine einheitliche Struktur verleihen, ganz gleich, ob es sich um Bäume, Mauern oder Himmel handelt.
Der Ostschweizer Ferdinand Gehr (6.1.1896-1996) entdeckte als junger Mann in Florenz Giotto und erlernte die Fresko-Technik. In Paris wurde er stark durch Cézanne und Matisse geprägt. Seit den 30er Jahren führte er zahlreiche, stark abstrahierende Wandmalereien in Kirchen aus.
Nicolas de Staël (5.1.1914-1955) interpretierte die Gestaltungsprinzipien von Cézanne, Matisse und Braque zunächst abstrakt. Er setzte geometrische Formen in kräftigen Kompositionen ins Bild. Später fand er eine Synthese zwischen abstrakten Formen und Gegenstandswelt. Seine ausgewogenen, stilllebenhaften Bilder sind durch Farbblöcke und -streifen klar strukturiert. Pierre Soulages (24.12.1919) entwickelte eine archaische Formensprache, welche an die Monumentalität der romanischen Architektur und an die urtümliche Kraft der keltischen Kunst seiner Heimat, der Auvergne, erinnert. “Der Formenapparat seiner Bilder ist auf eine äusserste Einfachheit reduziert. Die Grundstrukturen bilden wenige, meist schwarze Farbbalken, die den Bildern einen schweren, düsteren Charakter verleihen und zur ikonenhaften Statik ihrer Erscheinung beitragen.” (“Lexikon der Malerei”, Unipart).
Viele Werke von Félix Vallotton, August Macke, Serge Poliakoff, Antoni Tàpies und Eduardo Chillida führen ebenfalls zentrale Merkmale der Steinbock/Saturn-Gestaltung vor Augen.
11. Kontext
“Eine gute Zeichnung ist wie ein guter Staat: ein organisch gegliedertes Ganzes.” (Gerhard Gollwitzer). Die Autorität der Aussage gründet in der zwingenden Ordnung des Bildgefüges. Künstlerisches Schaffen ist Suche nach Einklang zwischen der sichtbaren Welt und dem inneren Bild eines geistig geordneten Kosmos. Bei dieser Suche spielten die Zahlen seit jeher eine wichtige Vermittlerrolle. Die Beschäftigung mit Zahlenverhältnissen wurde meistens verknüpft mit dem Begriff der Harmonie, der grundlegend für unser abendländisches Selbst- und Weltverständnis ist. Den Pythagoräern (Pythagoras, 560-490 v. Chr.) wird die Entdeckung zugeschrieben, dass die als harmonisch empfundene Tonleiter sich in ganzen Zahlen ausdrücken lässt. Qualitatives wurde dadurch quantifizierbar. Und je niedriger die Zahlenverhältnisse, umso stärker die Konsonanz, umso wohltuender der Zusammenklang.
Leon Battista Alberti (1404-1472), als Architekt, Kunsttheoretiker, Philosoph, Dichter und Musiker ein genialer Repräsentant der italienischen Renaissance, übte mit seinen Schriften einen wichtigen Einfluss auf die Architekten und Maler der damaligen Zeit aus. Gleich wie sein Vorbild Vitruv (1.Jh.v.Chr.) huldigte Alberti der Auffassung, dass ideale Schönheit –letztlich Ausdruck des Göttlichen– sich durch einfache, klare Massverhältnisse manifestiert. Deshalb legte man damals Bau- und Bildwerken häufig ganzzahlige Proportionen zugrunde. Dabei gelangten vor allem die Teilungen 4 / 6 / 9 und 9 / 12 / 16 zur Anwendung.
12. Essenz
Kurz zusammengefasst geht es im Steinbock/Saturn-Gestaltungsprozess um “die Verwandlung des Chaos der Einzelheiten in einheitliche Gestalt, in ein Gebilde gesteigerter, geklärter ... Sichtbarkeit.” (Gerhard Gollwitzer). Die konkrete Wirklichkeit unseres Alltagserlebens verbindet sich darin mit der Abstraktion des gestalteten Bildes; die konsequente Darstellung einer Erfahrung mit den formalen Ansprüchen der Gestaltung.
Denn die Kunst ist ein Ding viel zu gross und zu schwer und zu lang für ein Leben und die, welche ein grosses Alter haben, sind erst Anfänger in ihr.
Rainer Maria Rilke
Die Kunst ist kein Betätigungsfeld für entspannte Leute. Die Reichtümer der Seele müssen durch bewusste und unbewusste Disziplin in eine organisierte Form gebracht werden, und dazu bedarf es einer Anstrengung der Konzentration.
Rudolf Arnheim
Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen.
Martin Heidegger
Perfektion ist, wenn man nichts mehr weglassen kann.
Antoine de Saint-Exupéry
Die Wassermann/Uranus-Gestaltung
Qualitätskriterien
konzeptuell, komplex, experimentell, erfinderisch, individuell, originell, elitär, intellektuell, assoziativ, interdisziplinär, revolutionär, genial
1. Motivation
Motor der uranischen Kreativität ist der Erkenntnisdrang; der Wille, sich aus überlieferten, einengenden Mustern zu befreien, mit neuen, offeneren Strukturen zu experimentieren und diese in eine zeitgemässe Bildsprache umzusetzen.
2. Material
Zusätzlich zu all den Mitteln, welche in der Zwilling/Merkur-Gestaltung Verwendung finden, sind hier speziell die neuen Medien von Interesse. Am Computer kann mit Hilfe von Scans und Grafik-Programmen Bild- und Textmaterial aus diversen Quellen zusammengefügt und auf verschiedenste Arten bearbeitet werden. Die Video-Kamera oder das iPhone können zur Bildfindung gebraucht werden, indem z.B. aus den bewegten Bildern einzelne “Stills” (Standbilder) ausgewählt, über den Computer bearbeitet und allenfalls ausgedruckt werden können. Während die Mail-Art, in den 60er Jahren aus der Fluxus-Bewegung heraus entstanden, das Postnetz zur globalen künstlerischen Kommunikation nutzte, bedient sich heute ein Teil dieser Kunstschaffenden der elektronischen Medien. Und mit den Social Media und der Internetkunst haben sich völlig neue Arbeitsgebiete eröffnet. Doch grundsätzlich kommt in der Wassermann/Uranus-Gestaltung jegliches Material in Frage, wobei dieses vorzugsweise ausserhalb seines üblichen Kontexts angewendet wird.
3. Anregungen
Die Beschäftigung mit Bildern –im weitesten Sinne– konfrontiert mit den unterschiedlichsten
Haltungen und Weltanschauungen. Dies bringt Nähe und Distanz, verschafft Einblick und Überblick. Die Orientierung an anderen Wissensgebieten und anderen Ausdrucksformen verhindert Inzucht und ermöglicht Innovation.
Von besonderem Interesse ist hier die Semiotik, d.h. die Lehre von den Zeichen. Diese besagt unter anderem, dass Zeichen von einem System in ein anderes übertragen werden können. Die Blindenschrift z.B. transformiert sprachliche Zeichen in taktile, und die Notenzeichen sind Übersetzungen von auditiven Systemen in visuelle. Diese Verbindungen eröffnen ganz neue Aussagemöglichkeiten.
Zentral im Wassermann/Uranus-Bereich ist das vernetzte Denken, das Schaffen von Beziehungen zwischen unterschiedlichsten Lebens- und Wissensgebieten. Dabei liegt das Augenmerk immer auf den neuesten Forschungsergebnissen und den Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. Bei den Entwicklungen der künstlichen Intelligenz sind es in unserem Zusammenhang natürlich die diversen Bildgeneratoren, mit denen sich experimentieren lässt.
4. Einstimmung
Die eigentliche Vorbereitung auf die –primär konzeptuelle– Arbeit besteht im “brain-storming”, allein oder noch besser in einem Team. Dabei ist der Wassermann/Uranus-Typ “darauf aus, die blitzartigen Durchläufe jener mentalen Stromkreise zu verfolgen, in denen räumlich und zeitlich weit voneinander entfernte Punkte erfasst und verbunden werden” (Italo Calvino). Das “Mind-mapping” ist die geeignetste Methode, all die spontanen Einfälle –unzensuriert!– in Form von Stichworten oder schematischen Skizzen zu Papier zu bringen und zu vernetzen. Doch ebenso inspirierend kann das Surfen im Internet sein, oder das Verfolgen der aktuellen
Satellitenbahnen, um diese mit der Verkaufsauslage des nächstgelegenen Käsehändlers in Beziehung zu bringen und das Ergebnis in eine visuelle Darstellung umzuwandeln! Jedenfalls wird über die Bildgrenzen hinausgedacht, Neues in die Bildgrenzen hineingenommen. Die Bildfläche wird zum Versuchslabor. Es wird experimentiert, d.h. es werden Dinge erprobt, von denen noch niemand weiss, ob und wie sie funktionieren. Ausgangspunkt ist eine Hypothese, daraus wird eine Strategie und (z.B. mittels Scribbles) eine Bildsprache entwickelt.
5. Durchführung
Vielleicht müssen neue Zeichen oder Techniken erfunden werden. Vielleicht erscheinen die Bildgegenstände bewegungslos und abstrakt, die Konturen überscharf und die Farben dissonant – oder vielleicht auch ganz anders!
Immer wieder geht es darum, Distanz zu schaffen, Konventionen zu unterlaufen, zu verfremden, sei es durch das Verzerren der Proportionen, durch die Anwendung einer “falschen” Farbe oder Oberflächenstruktur oder durch die Platzierung der Dinge in einer ungewohnten Umgebung – alles Verfahren, welche die Surrealisten mit Fleiss und Witz angewendet haben. Bewusste Regelbrüche verweisen unübersehbar auf die geltende Regel und stellen sie zur Diskussion. Scheinbar Sinnloses oder Unnötiges wird aufgegriffen und in einer überraschenden Wendung plausibel in ein neues System integriert, das sich den alten Wertmassstäben entzieht. Vielleicht bringt auch der bewusste Einsatz einer Zufallsmethode die Befreiung von alten Routinen. Zufälle –oder auch Unfälle!– können äusserst produktiv werden.
In einem weiteren Schritt werden allenfalls die Möglichkeiten der Interaktivität erkundet, wodurch Betrachter*innen zu Nutzer*innen und Mitgestaltenden werden.
6. Überprüfung
Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten droht Beliebigkeit. Das jeweilige Konzept muss mit der formalen Lösung übereinstimmen. Da die Eigenart jedes Mediums an sich formend auf den Inhalt wirkt, stellt sich immer wieder die Frage, ob die betreffende Form auch wirklich mediengerecht dargestellt sei. Anderseits werden Abweichungen aber gerade dann sinnvoll, wenn durch das Auseinanderklaffen von Inhalt und Form eine neue, erhellende Aussage entsteht.
Zu überprüfen ist auch der Titel der entstandenen Arbeit. Ist er ungewöhnlich, kühl, vielschichtig – kurz: Ist er uranisch genug?!
7. Formverbindungen
In einem einzelnen Bild sind es immer Punkte, Linien oder Flächen als kleinste Einheiten, welche sich zu einem Ganzen verbinden sollen. Doch kann nun diese bereits komplexe Gestaltung wieder als Grundeinheit begriffen und mit anderen Bildern in Beziehung gebracht werden. Dies ist der Fall beim Einrichten einer Ausstellung. Bilder, welche an sich ein „selbständiges und ausbalanciertes Ganzes“ (Arnheim) sind, sollen nun mit anderen, ebenso eigenständigen Bildern zu einer neuen, „höheren“ Einheit zusammenfinden. Und dies nach den gleichen Kriterien, welche die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Elementen eines einzelnen
Bildes regeln: Ort, Richtung, Mass, Abstand, Menge, in den Relationen “gleich”, “ähnlich” oder “verschieden”. Das sukzessive „Lesen“ der verschiedenen Einzelbilder betont bei diesen Werkkomplexen durch ihre räumliche Ausdehnung zudem die zeitliche Dimension der Wahrnehmung, ähnlich wie beim Betrachten eines Films.
Diese Erweiterung entspricht durchaus dem Ideal des Wassermann/Uranus-Typs, welcher die “Harmonie der Originale”. anstrebt. Das Individuelle soll sich dabei mit einer umfassenden, progressiven Ordnungsidee verbinden. Die einzelnen Teile –modellhaft beispielsweise für die Bürger*innen eines Staates– bewahren innerhalb des Ganzen immer einen hohen Grad an Unabhängigkeit. Und gerade weil diese einzelnen Teile so verschieden sind, macht es Spass, sie zu verbinden!
8. Spannung
Ein wirkungsvolles Mittel, Spannung zu erzeugen ist die Verwendung verschiedenster Darstellungsarten und -techniken innerhalb eines einzigen Bildes.
Darüber hinaus trifft man in Kunsträumen immer häufiger auf Präsentationen mit unterschiedlichsten Bildern und „kunstfremden“ Objekten, entsprechend dem verstärkten ökologischen Bewusstsein (Stichwort „Artenvielfalt) und den postmodernen Auffassungen über das Zusammenspiel von Disparatem. Zudem hat die künstlerische Ausdrucksform der Installation die Art und Weise, wie heute Ausstellungen eingerichtet werden, stark beeinflusst und auch den Blick geschärft für das Zusammenwirken der einzelnen Bestandteile mit dem Raum. Doch ist die Präsentation in einer Kunstgalerie oder einem Museum tatsächlich am wirkungsvollsten? Wären Bild- und Objektinstallationen an ungewöhnlichen Orten nicht interessanter? Würden sich gewisse private Räume nicht besser eignen, oder der Aussenraum (Plakate, Street Art usw.), oder das Internet? Die Art und Weise der Vermittlung der Werke ist jedenfalls integraler Bestandteil der gestalterischen Arbeit, und der Wassermann/Uranus-Typ ist sich dessen voll bewusst.
9. Vision
Dank seiner “panopticity of mind” (John Cage) will sich der Wassermann/Uranus-Typ als weiser Narr die Freiheit nehmen, in seinen Werken dem Nonkonformen und Paradoxen zu ihrem Recht zu verhelfen. Neue, ungewohnte Bilder nehmen neue Vorstellungen der Wirklichkeit voraus. Bilder sollen so zu Modellen mit dem Anspruch werden, gemeinschaftliche kulturelle Bedürfnisse neu zu definieren. Vielseitiges Miteinander macht Sinn. Die Kunst soll zum leistungsstarken Transmitter für eine multikulturelle, progressive Gesellschaft werden!
10. Vorbilder
Francis Picabia (22.1.1879-1953), durch Pissarro zum erfolgreichen Impressionisten geworden, spielte in der Folge mit sämtlichen Avantgardeströmungen ebenso wie mit dem Akademismus und der Trivialkunst. Nach seinen ironischen, mit Schriftzügen versehenen Maschinenbildern jonglierte der “Christoph Kolumbus der Kunst” (Jean Arp) mit Klischeebildern, die er in teils dekorativ-flächigen, teils linear-umrisshaften Ebenen überlagerte. Sie waren, ebenso wie seine “Monstren”, eine Revolte gegen “die Wüste des guten Geschmacks”. Picabia war übrigens nicht nur Maler, sondern auch Schriftsteller, Polemiker, Zeitschriftengründer, äusserst wohlhabender Anarchist und Autonarr.
Fernand Léger (4.2.1881-1955), gelernter Bauzeichner, schuf ab 1910 eine eigene, unverwechselbare Bildsprache. Aus Kuben, Zylindern und Kugeln evozierte er die Welt der Mechanik, in reinen Farben und mit harten, schwarzen Konturen. “Léger erhob als erster die technologisch bestimmte Zivilisation zum Objekt ästhetischer Betrachtung, und formulierte damit die utopische Vorstellung von einem friedvollen Mit- und Nebeneinander von Mensch und Maschine.” (“Lexikon der Malerei”, Unipart).
Gerhard Richter (19.2.1932) “malte ab 1964 nach photographischen Vorlagen Bilder in verwischten Grautönen, die das Prinzip ‘Abbildung’ reflektieren. 1966 folgten Farbtafeln nach dem Vorbild von Farbmusterkarten. Schwarz-weisse Stadtansichten und Gebirgslandschaften, die in kräftigem Farbauftrag in groben Zügen festgehalten sind, und realistische, doch leicht verschwommene Landschaften, Seestücke und Wolkenbilder in transparenten Farben folgten. Danach entstanden pastos mit Rakeln gemalte abstrakte Bilder von effektvoller Farbigkeit. All diese sehr unterschiedlichen Werkgruppen –zuletzt riesige Digitaldrucke feiner horizontaler Farbbänder– lassen “an Tagebucheintragungen Richters denken, in denen er unter dem Stichwort ‘Zufall als Thema und Methode’ das Prozessuale, nicht das Produkt als ‘moderne
Wahrheit’ und, andernorts, als ‘ständig sich selbst organisierende Lebendigkeit’ bezeichnet. Der Maler Gerhard Richter erscheint hier ganz als ein Konzeptkünstler, der seine Mittel in der Malerei findet.” (Gerhard Mack).
Auch Claes Oldenburg, Georg Baselitz, Konrad Klapheck, Martial Raysse und Sigmar Polke verkörpern auf je eigene Art Aspekte des Wassermann/Uranus-Typs.
11. Kontext
Wassermann/Uranus-Gestaltung ist eine Leistung des Erfindergeistes, welcher altbekannte, vielleicht schon erstarrte Formen durch überraschende Kombinationen neu zusammenfügt, immer im Spannungsfeld von individueller Biographie, persönlichem Wissen und Können, der ganzen Kunst- und Sozialgeschichte und dem aktuellen Zeitgeist.
Auffällig ist hier das grosse Interesse für Systeme. Moleküle, Computer, Menschen, Organisationen sind Teile von natürlichen, technischen, sozialen, ökonomischen Systemen. Diese Teile befinden sich in ständiger Wechselwirkung und in einem Beziehungsgeflecht, in dem Energie, Informationen, Ideen, Güter usw. ausgetauscht werden. Diese Beziehungsgeflechte oder Netze sind ihrerseits wieder mit anderen Netzen auf vielfältige Weise verbunden.
Aber auch im traditionellen Medium der Malerei lässt sich diese Komplexität veranschaulichen. In der gegenständlichen postmodernen Malerei z.B. gibt es zwar noch die gewohnten Bildgattungen “Stillleben”, “Figur”, “Landschaft” usw., aber sie sind nicht mehr nur Abbild der
Aussenwelt, sondern sie thematisieren die Malerei selbst. Diese Bilder stecken oft voller Zitate. Wir haben es mit “Nachbildern” zu tun, mit Kunst über Kunst. Auf diese Weise wird eine inhaltliche Vielschichtigkeit aufgebaut, oft auch eine ironische Distanz.
12. Essenz
Der Wassermann/Uranus-Archetyp verkörpert die Welt des Logos, weit entfernt vom „Gefühl“ im üblichen Sinn. Dieser intellektuelle Ansatz kann hochinteressante Diskussionen auslösen, andere Menschen zum Experimentieren anstiften, die Begeisterung für das Geniale entfachen. Und er stärkt die Überzeugung, dass Ordnungssysteme selber kreiert werden können und nicht einfach übernommen werden müssen.
Die Kunst ist - entgegen allen ästhetischen und philosophischen Schulmeinungen - nicht ein Luxusmittel, in schönen Seelen die Gefühle der Schönheit, der Freude oder dergleichen auszulösen,sondern eine wichtige geschichtliche Form des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen untereinander, wie die Sprache.
Rosa Luxemburg
Kunst = Mensch = Kreativität = Freiheit.
Joseph Beuys
Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.
Francis Picabia
Die Fische/Neptun - Gestaltung
Qualitätskriterien
traumhaft, sphärisch, auflösend, losgelöst, immateriell, offen, absichtslos, inspiriert, fantasievoll, musikalisch, geheimnisvoll, schlafwandlerisch, meditativ, medial, psychedelisch, mystisch
1. Motivation
Ein Geheimnis, eine unbestimmte Sehnsucht, ein ferner Traum: Fische/Neptun-Gestaltung ist der Versuch, diese flüchtigen Phänomene im Bild einzufangen. Der Fische/Neptun-Typ will das Unsichtbare hinter den Dingen sichtbar machen. Und letztlich will er sich verlieren, um in etwas Neuem aufzugehen.
2. Material
Ungeeignet sind Techniken, welche komplizierte handwerkliche Abläufe oder hochspezialisiertes Wissen verlangen. Buntstifte oder Pastellkreiden in nuancierten Abstufungen sowie sämtliche wasserlöslichen Farben (Aquarell, Gouache, Acryl) erlauben schnelles, “flüchtiges” Arbeiten mit leichten, transparenten Tönen. Die Ölmalerei wird geschätzt, weil die Farben sehr lange ineinander verstrichen werden können, ohne allzu schnell zu trocknen. Gerne werden auch Werkzeuge und Techniken verwendet, die dem Zufälligen Raum lassen.
3. Anregungen
Der Fische/Neptun-Typ braucht nicht theoretisches Wissen, sondern die Bereitschaft, den gestaltenden Kräften des Transpersonalen Raum zu geben. Durch meditative Übungen z.B. kann er sich für solche Eingebungen offen halten. In der Meditation wird jener Punkt gesucht, an dem der Geist absolut still ist. Denn erst aus dieser Stille heraus kommt es zur Bewegung, die immer wieder neu ist. Dabei kann alles zum Anlass der Meditation werden: eine Situation, ein Wort, eine Landschaft, ein Gegenstand – und somit auch das Betrachten eines Bildes oder das Malen selber.
Das Nicht oder die Leere, zentrale Begriffe in der ostasiatischen Philosophie, haben auch für die Bildgestaltung eine wichtige Bedeutung. Leere Stellen im Bild sind Ruhebereiche, analog zu den Pausen in der Musik. Diese sollten aber nicht einfach tote Stellen sein, sondern ebenso achtsam behandelt werden wie die “vollen” Bereiche. Bei der „Aussparung“ als Gestaltungsmittel werden nur die an das eigentlich Gemeinte (einen Gegenstand, eine Figur, eine abstrakte Form) angrenzenden Flächen gemalt. Es bleibt dann dem Vorstellungsvermögen der Betrachter*innen überlassen, diese Leerstellen deutend zu füllen.
4. Einstimmung
Gesucht wird die Erlösung aus dem Zwang der Dinge und der Verhältnisse, denn es sollen Bilder entstehen, welche die Grenzen der objektiven Gegebenheiten und des Alltagsbewusstseins überschreiten und welche auf eine übersinnliche Dimension hinweisen. Der Fische/ Neptun-Typ zieht sich gerne in die Einsamkeit zurück, sei es in eine ruhige Klause, eine stimmungsvolle Landschaft, aber auch in eine anonyme Grossstadt, wo sich leicht das Gefühl einstellt, sich mit allem identifizieren und sich auch leicht wieder von allem lösen zu können. Er gerät so in einen traumähnlichen Zustand, bei dem er sich aber nicht gegen das Aussen verschliesst. Leonardo da Vinci gab den Rat, “manchmal stehen zu bleiben und auf Mauerflächen hin zu sehen oder in die Asche im Feuer, in die Wolken oder in Schlamm. Du wirst, wenn du sie recht betrachtest, sehr wunderbare Erscheinungen in ihnen sehen. Durch verworrene und unbestimmte Dinge wird der Geist zu neuen Erfindungen wach. Es tritt bei derlei Mauern und
Gemisch das ähnliche ein, wie beim Klang der Glocken: Da wirst du in den Schlägen jeden
Namen und jedes Wort wieder finden können, das du dir einbildest.”
Musik –besonders meditative, tragende Musik, der man sich voll hingeben kann– ist eine weitere, wunderbare Inspirationsquelle. Und auch in Trance oder durch Rauschmittel kann man sich der Kontrolle eines allzu einengenden Bewusstseins entziehen – mit den entsprechenden Risiken natürlich!
Im Zustand der Inspiration ist man eins mit dem, was sich gestalten will. Doch in der praktischen Arbeit wird sich diese Einheit bald verlieren, denn das Immaterielle lässt sich per Definition nicht in Materie fassen. Aus dieser Einsicht heraus verzichtet man entweder ganz auf das Erschaffen von Bildern, oder aber man hält die Spannung aus und lässt die Zeichnungen und Malereien als blosse Hinweise auf das Transzendente gelten.
5. Durchführung
Diesen Schritt getan, folgt der Fische/Neptun-Typ nun seinen inneren Bildern. Er führt Zwiesprache mit den auftauchenden Formen und Farben, welche ihm suggerieren, wie und wo sie im Bild erscheinen möchten. Er betrachtet das so entstehende Bild, und gleichzeitig schaut dieses Bild ihn an. Und er entwickelt es weiter in ständigem Wechselspiel von sensibler Aktion und Reaktion. Dabei entsteht nichts planmässig und auf geradem Weg. Wesentlich ist das Vertrauen in einen Prozess, der Offenheit zulässt, auch den Zufall, und die Führung durch das Unbewusste, wie das z.B. bei der „écriture automatique“ der Fall ist. Diese Befreiung von Regeln, Systemen, Prinzipien und eindeutig festgelegten Aussagen –etwa so wie bei Telefonkritzeleien– erlaubt es auch, auf jedwelche willensgesteuerte, “gekonnte” Malweise zu verzichten und zwischendurch auch mit geschlossenen Augen zu arbeiten, oder mit Verfahren, welche die Kontrolle einschränken, wie z.B. die “Dripping-Technik”.
Vielleicht ergibt sich im Verlauf des Zeichnens und Malens durch stetige Wiederholung ähnlicher Bewegungen eine “All-over”-Struktur, die jedes fixierende Zentrum auflöst. Es entsteht ein Muster, das sich gleichsam über die Bildränder hinaus fortsetzt. Durch ständiges Überkritzeln oder transparentes Übermalen entstehen Bilder ohne Abgrenzungen und Härten, wodurch die einzelnen Elemente nicht klar definiert, sondern nur andeutet werden. Die Dinge erscheinen möglicherweise wie von einer Aura umgeben, Innen und Aussen sind nicht mehr scharf getrennt. Vielleicht erinnert das Bild nun immer mehr an das Verschwinden einer Erinnerung oder an das Verblassen eines Traumes. Jedenfalls gerät der Fische/Neptun-Typ bei seinem Tun sehr leicht in einen Flow, in dem die Zeit keine Rolle mehr spielt.
Doch wie bei der Skorpion/Pluto-Gestaltung können die Resultate auch hier sehr unterschiedlich aussehen. Aus dem gleichen Bedürfnis heraus, Bilder zu schaffen, welche ein meditatives Eintauchen und Transzendenz erlauben, kann micht zuletzt auch die Sprache der Geometrie mit ihrer abstrakten Einfachheit zum geeigneten Vehikel werden.
6. Überprüfung
Erlaubt das Bild ein völliges Eintauchen, oder verhindert noch ein allzu konkretes Detail oder eine allzu absichtsvolle Komposition das Loslassen? Der ”Macher” muss unsichtbar werden. Der Reiz des Fragmentarischen –und dadurch Geheimnisvollen– darf nicht verloren gehen. Kein ängstliches Abbilden von sofort erkennbaren Dingen! Der alltagstaugliche Verstand verunmöglicht das Imaginative, und der intellektuelle Prozess des präzisen Bezeichnens verstellt das sensible Aufnehmen der besonderen Stimmung. Diese ist, anders als bei den beiden vorangehenden Wasserzeichen Krebs und Skorpion, durch ein Gefühl geprägt, welches man als überpersönlich bezeichnen könnte.
7. Formverbindungen
Formbeziehungen werden im Fische/Neptun-Bereich nicht bewusst inszeniert. ”Die verschiedenen Teile und Teilchen bleiben ... mehr oder weniger isoliert, oder sie schliessen sich zwanglos und systemlos zu Gruppen zusammen. Durch den Wechsel von dichten Gruppierungen, Ballungen und lichteren Zonen entstehen Bewegungen, die sich zu Flutungserscheinungen verstärken lassen. ... Der Blick nimmt wolkige, dichtere oder lichtere Zonen wahr. Je nach ihren Positionen wogen sie ineinander, scheinen sie Strömungen zu bilden.” (Günter Stachowsky).
8. Spannung
Kunst kann nicht ”gemacht”, und danach auch nicht erfasst oder begriffen, sondern höchstens ermöglicht, erahnt und erspürt werden. Sie ist ihrem Wesen nach flüchtig. Es muss also ein Gleichgewicht zwischen Tun und Nicht-Tun gefundn werden, zwischen aktivem Eingreifen und passivem Geschehenlassen; zwischen der Tendenz, sich dem “Machen” und jeder Art von Materialisierung zu entziehen, und der Notwendigkeit, den Intuitionen eine konkrete Form zu geben, damit sie sichtbar werden.
Echte Kunst ist “zwecklos”. Gerade der zielgerichtete Wille zum guten Bild verhindert dieses. Worauf es ankommt, ist das Loslassen vom Wissen, Können und Wollen, und das völlige Aufgehen im Fluss des Arbeitsprozesses. Alles geht dann wie von selbst. Vielleicht stellt sich dieser Zustand erst nach einer gewissen Zeit, bei zunehmender Müdigkeit ein, wenn man sich leichter hingeben kann und bereit ist, sich führen zu lassen. Man bewegt sich dann nicht mehr selber, sondern wird bewegt. Man wird zum Medium für etwas, das durch einen hindurchfliessen und zum Bild werden will.
Mit andern Worten: Spannung findet sich nicht im Arbeitsprozess selber und auch nicht in den entstehenden Bildern, sondern im Kontrast zum alltäglichen Funktionieren und dem gängigen Nützlichkeitsdenken.
9. Vision
Das Ideal des Fische/Neptun-Typs ist Offenheit im Sinne von Wachheit, Achtsamkeit und Vorurteilslosigkeit, ist Verzicht auf Zweck und Wertung. Eine Haltung, die sich sehr ausgeprägt im Zen-Buddhismus findet. Es kann sich dadurch ein “Totalerlebnis” einstellen, ein “gesammeltes, reines Lauschen auf die schweigende Aussage, die letztlich doch wieder alles in sich zurücknimmt, um auf das jenseits aller Form und Farbe liegende absolute Nicht ... zu verweisen ... ” (Helmut Brinker).
Neptunische Bilder sollen erahnen lassen, dass letztlich alles mit allem verbunden ist, da alles aus der selben Quelle stammt. Sie sollen das Leiden an der Vergänglichkeit in die Hoffnung auf etwas Unvergängliches hinter allen Erscheinungen verwandeln. Sie sollen ein Gefühl dafür vermitteln, dass alles gut ist, so wie es ist, und dass man sich führen lassen kann.
10. Vorbilder
In der bildenden Kunst der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts sind Tachismus, Informel und monochrome Malerei in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse. Oft weisen auch die Art brut von Geisteskranken sowie die sogenannte Psychedelische Kunst Formenmerkmale des Fische/Neptun-Archetyps auf. Wesentlich dabei ist die Öffnung zum Unbewussten hin und der Verzicht auf die Kontrolle durch den Intellekt.
Lucio Fontana (19.2.1899-1968) durchlöcherte und durchschnitt monochrom bemalte Leinwände ”wie ein chinesischer Maler, der nach langer Meditation mit einem einzigen Schwung einen Pinselstrich zieht” (Erika Billeter). Fontana stellte so die Frage nach der Räumlichkeit neu. ”Schwarz unterlegte Gaze auf der Rückseite macht den faktischen Raum jedoch wieder dunkel und unergründlich. Die Erwartungen ... richten sich auf die geheimnisvolle Welt hinter den Schnitten.” (Michael Klant).
Günther Uecker (*13.3.1930), Mitbegründer der Gruppe “Zero”, stellt Raum, Licht, Bewegung und Zeit mit minimalen Mitteln dar: dem Nagel und der Farbe Weiss. ”Diese Weissstrukturen können eine geistige Sprache sein, in der wir zu meditieren beginnen. Der Zustand Weiss kann als Gebet verstanden werden, in seiner Artikulation ein spirituelles Erlebnis sein.” (G. Uecker). Der deutsche Künstler Anselm Kiefer (*8.3.1945) schuf Landschaftsbilder mit sich verflüchtigenden Perspektiven und Innenräume, “gezeichnet von den Runen der Geschichte. Räume, in denen das kleinste Detail von einstiger Grösse spricht, von der Anwesenheit des Numinosen. Das Wesentliche an diesen Räumen, ob sie nun Landschaftsräume, Heide, Wald, Kellergewölbe, Ehrensaal oder Dachboden darstellen, ist ihre Ausgrenzung aus dem täglichen Bereich unserer Erfahrung. Es sind dem Profanen entzogene Räume, verwandelt, beseelt, geheiligt, ... mythischer Bezirk, Weltmittelpunkt.” (Wieland Schmied). Für Kiefer bedeutet Malerei ein ”Herumgehen um etwas Unsagbares, um ein Schwarzes Loch oder um einen Knoten, dessen Zentrum man nicht betreten kann“ (A.Kiefer).
Auch in äusserlich so unterschiedlichen Werken wie jenen von Piet Mondrian, Oskar Kokoschka, Josef Albers, Varlin und Franz Gertsch finden sich Aspekte der Fische/Neptun-Gestaltung.
11. Kontext
Die Musik hat seit dem 19. Jahrhundert einen wichtigen Einfluss auf die bildende Kunst ausgeübt. Richard Wagners totale Entgrenzung und Verschmelzung der Künste hatte eine Synästhesiebegeisterung ausgelöst, die über ganz Europa ausstrahlte (vgl. Baudelaire, Rimbaud, Verlaine, Mallarmé). Klänge sollten sichtbar gemacht werden, Worte, Formen und Farben sollten klingen. Die Idee des Gesamtkunstwerks, das alle Künste vereint, faszinierte schon damals sehr viele Menschen. Um 1900 erhoben die Pioniere der Moderne die Musik, die wegen ihrer Unstofflichkeit und Reinheit seit der Romantik als die edelste unter den Künsten galt, zum
Leitbild ihres Schaffens. Sie wollten die Malerei vom Zwang der Naturnachahmung befreien.
Dies führte zur Entwicklung der abstrakten Malerei, welche den inneren Klang der Farben und Formen absolut setzte. “Im Grunde genommen ging es den Künstlern damals um mehr und um anderes als um Formprobleme ... Es ging ihnen um die Suche nach einem Zentrum des Lebens und der Dinge, nach ihrem unwandelbaren Hintergrund und einer inneren Gewissheit. Die Kunst war zur Mystik geworden.“ (Aniela Jaffé).
12. Essenz
Fische/Neptun-Bilder erscheinen “wie in einer Schicht weit unter der Gegenwart, ... noch vor dem Ursprung, ungelöst vom Ganzen, ihm hingegeben, noch in Übereinstimmung in allem, in Sanftheit und Unverletzlichkeit” (W. Döbereiner). Es sind Bilder der Offenheit und des Geschehen-lassen-Könnens, jenseits aller Zwecke und aller Begründbarkeit. Mit Fische/ Neptun-Bildern kann man gleichsam verschmelzen. Die Trennung zwischen dem Bild und den Betrachtenden scheint aufgehoben. Seine Losgelöstheit versöhnt mit dem Widerspruch, Unendlichkeit ahnen zu können, aber selber endlich zu sein. Die Versenkung in ein solches Bild kann das Gefühl der Befreiung von irdischer Schwerkraft vermitteln.
Was ist denn Kunst ? Sie ist die Zusammenfassung der ganzen Vielheit ewiger Wahrheit. Sie ist - auf die einfachste Formel gebracht - die Sichtbarmachung des Unsichtbaren hinter den Dingen.
Oskar Maria Graf
Es gibt eine Magie der verschlossenen Türen, der versiegelten Schriften, des Rätsels, des Geheimnisvollen, der Unzugänglichkeit schlechthin. Schleier, Vermummung und Maske haben eine Ausdruckskraft in diesem Sinn.
Boris Kleint
Ein Gefühl, das ich die Empfindung der “Ewigkeit” nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosen, gleichsam “Ozeanischen”.
Romain Rolland an Sigmund Freud
Wenn man etwas durch die Sinne Wahrnehmbares darstellt, drückt man etwas Menschliches aus... Wenn man nicht die Dinge darstellt, bleibt Raum für das Göttliche.
Piet Mondrian